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Landschaft mit Bieronouten

In den Biergärten brennt das Laub von den Bäumen. 42 Grad im Schatten treiben Werktätige und Säufer inklusive deren erhebliche Schnittmenge in die U-Bahn-Haltestellen. Selbst die Stammgäste des Absud beginnen fremdzugehen, tummeln sich abends auffällig lange in klimatisierten Supermärkten und strecken unverhohlen ihre Hände in die Truhen mit gefrorenen Lebensmitteln, nicht um Fischstäbchen zu mopsen sondern um sich abzukühlen. Das führt zu Dialogen wie diesen: “Nehmen Sie die Finger daraus. Das ist Kältediebstahl.” “So ein Unfug. Kälte kann man nicht stehlen, man kann nicht etwas stehlen was ohnehin schon die Abwesenheit von etwas ist.” Derartige Debatten über die strafrechtliche Auslegung thermodynamischer Effekte sind auch in Tankstellen die Regel, in denen sich dehydrierte Radfahrer und Fahrzeughalter von Wagen, deren Klimaanlage schlapp machen um die letzten Portionen gestoßenen Eises rangeln und andere Kunden erschrecken, weil sie die Kühlschränke mit den Getränken als Ganzkörperkälteanzüge missbrauchen und den Rest der von der Brownschen Molekularbewegung zermürbten Verkehrsteilnehmer aus kryoekstatischen Fischaugen anglotzen. Aber wenn die Supermärkte mit massiver Polizeiunterstützung die Kältejunkies in die Hitze der Nacht verbracht haben, die noch stundenlang mehr bettelnd als wütend vor den Eingängen ausharren und “Wasserwerfer! Wasserwerfer!” fordern, wenn die Tankstellen auch die letzten Pseudoleichen aus den Gefriertruhen entfernt haben sind die U-Bahn-Haltestellen der Brüller. Hier treffen sich die schlaflosen Stammis des Absud, die in Mansarden unter mit schwarzen Schindeln gedeckten Dächern vor sich hin brüten, umgeben von Mauern, die nachts die am Tag aufgestaute Hitze nach innen abstrahlen wie die Wandungen eines Pizzaofens, weswegen Strothmann seine Tonno bei Michele nur belegen läßt, den Rest erledigt sein Schlafzimmer. Die kühle Idylle wird nicht lange Bestand haben. Kälte ist ein zu wertvolles Gut, und das Konfliktpotenzial zwischen den gegen die Hausordnung verstoßenden Rauchern und den Ordnungskräften, sowie den tatsächich auf den öffentlichen Teilchenbeschleuniger wartenden Fahrgästen ist erheblich. “Das wünschte sich neulich der Konditor auch, als seine Kunden Schlange standen, einen Teilchenbeschleuniger.” “Der war passend zum Aufenthaltsort unterirdisch” goutierte Barbie Q. Bierkos Kühlauer (oder auch Kaltauer). Zu Beginn der Hitzewelle war die U-Bahn-Haltestelle Hauptbahnhof noch ein von der Saufbruderschaft des Absud entdeckter Geheimtipp. Die Getränke im Selecta- Automaten waren besser gekühlt und das Personal - da Selbstbedienung angesagt war - freundlicher als im Absud. Den Mangel an Alkohol behob man durch Mitgebrachtes von der Tanke, mischte Müller-Milch mit Jägermeister und zumindest unter der Woche war man ab 1 Uhr nachts weitgehend unter sich, sieht man von einigen Nachtschwärmern ab, die sich durch mißglückte Tätowierungen als Einwohner der Herner Hölle outeten, denen neben dem Hang zu kleinen Hunden gemeinsam ist, dass sie schlechte Schwimmer sind (für eine kritische Überprüfung dieser soziogenetischen Disposition empfiehlt sich ein Aufenthalt am Rhein-Herne-Kanal zwischen der pinken Kanalbrücke und dem Firmenschild mit der Aufschrift: HINGABE etwa auf Höhe des Vereinsheimes des Damenrudervereins TUSS Pöppinghausen). Einmal verwirrte sich eine Bochumer Symphonikerin in den Untergrund, deren T-Shirt sie als `Klarinutte`ankündigte. Eine ganz Nette, die sich bald zu den Absudianern gesellte: “Ich bin froh noch vor meinem Begräbnis im Untergrund zu landen”. Bier transportierte man in Kühlrucksäcken von “Trinkgut”, die weg gingen wie (Ob8!) warme Semmeln. Becks Benny hatte einige Sitzkisten besorgt, so dass man bequem auf den als unbequem geplanten Bänken Platz nehmen konnte, es bildeten sich Grüppchen wie am Tresen, die ihre Stammthemen wieder aufnahmen, in Becks Bennies und Wayne Rooneys Fall Kosmologie und Kalauer: “….aber das Beste war, als ich mal in einem Physik-Blog eine Diskussion zu Push Gravity gelesen habe und als ich ans Ende des Threads scrollte stand da der Hinweis: `wenn Sie sich für dieses Thema interessieren dann interessieren Sie auch folgende Themen`, und dann kam als erstes `Toilettenspülungen`” “…hängt bestimmt mit dem Kloriolis-Effekt zusammen…” schließt Wayne-Rooney die Vom-Flachmann-für-Penner-Hommage, mit der für ihn charakteristischen, blau verschrobenen Abwärtsmodulation der Stimme, und bestellt noch zwei effektive Doppelte, die er wie gewohnt in Ermangelung von Service nicht bekommt (auch wenn - ebenso wie gewohnt - jemand `kommt sofort` verspricht, mit einer gekünstelten Eilfertigkeit, die das Versprechen zu `Komfort` kontrahiert). Etwas später zoffen sie sich über die Gestalt des Universums: “Das Universum ist nach neuesten Erkenntnissen flach. Das ist state of the A! R! T!” “Na klar. Und die Erde ist eine Scheibe.” Der schwäbische Patient, ein näselnder Komissar mit der Stimm- und Stimmungslage von Marvin, dem depressiven Roboter, schaut verstimmt auf sein iphone 4, aus irgend einem Grund hat er hier unten schlechte SIM-Karten. Obendrein empfängt im Untergrund das i-phone nicht die GPS-Signale der Fußfessel des von ihm betreuten Sexualstraftäters auf Freigang. Marvin ist angepasst, jetzt ist er angepisst: entweder man spricht die Leute frei oder nicht, aber dass wir es auf unsere Kappe nehmen soll wenn der Unverbesserliche sich ne Klarinutte schnappt ist der Hammer. Für ihn ist jeder ein Wiederholungstäter, das ist es was ihn überfordert. Je später die Nacht, desto breiter die Gäste: Lloyd hat seine Butze längst dicht gemacht und mischt sich unters Volk, dem er die Stimmung durch sein unablässiges Gejammer über das Nichtraucherschutzgesetz zu vergällen sucht, und warum auch nicht, so undankbar wie sein Volk sich beim geringsten Anzeichen von Überhitzung in die kostenlose Komfortzone zurückzieht: “Was wird als nächstes untersagt? Die Zigarette danach?” krakeelt er die außerbetriebliche Rolltreppe herab, die er der Aufforderung: “Mensch Lloyd, komm doch mal runter” folgend hinab stolziert. Einige Boltzman-Hirne poppen kurz auf wie Sektkorken aus dem Nichts, hinterlassen ein paar protopodienverfasste (h)eilige Integrale und Aphorismen zur Metaphysik der Unschärfe (”Gott ist alles Mögliche, denn das Universum lügt”) als Graffitti in der Höhlenbutter der U-Bahn-Schächte, um rasch wieder in der prächtig niederträchtigen Unendlichkeit des ewigen Entzugs zu verschwinden. Bis in die hellen Morgenstunden wird die U-Bahn Haltestelle Hbf-file von der Vakuum- fluktuation der nach der Eigenannihilation der Boltzmann-Encephalioden mittels Weapons of Self-Destruction nun endgültig hirnlosen Cut-ups beherrscht: “Also ich futter ja Rettich gegen die allgemeine Unschärfe…” “…seit dem Tod meiner Eltern bin ich glücklicher als zuvor, das macht mich wütend auf sie…” “…Genialität und bipolare Störung sind ein und dasselbe…” “…demnach ist Gravitation in Wirklichkeit Kavitation…” “…gründete in Churchtown einen ausgesprochen erfolgreichen Hatering-Service für abgestandene Masochristen…” “…lieber Söhne lenken als Löhne senken…” Analog ist das neue digital, das Nichts ist auch nicht mehr das was es mal war, XING ist ein Friedhof der Kuscheltiere und so weiter, es war als wär Lloyd nie weg gewesen. So selbstverständlich wie man ihn zuvor im Stich gelassen hatte nahm ihn die Saufkundschaft auf, kein Empfang, eher eine Absorbierung. Die Stammis liessen ihren Dealer nicht untergehen, sondern bei sich untertauchen, bis die inflationäre Ausweitung der Kampfzone als blutige Rotverschiebung Tod und Verderben brachte (in dieser Reihenfolge). Der Krieg in den Städten, das Theater der Grausamkeit, der Kampf um Kühlflüssigkeit, der klaustrophobische Furor, die Plünderung der Eisdielen, die Star Trek- Episode `The Mark of Gideon` als Endlos-Stummfilm auf den Video-Displays, das Ende der Überlieferungen - alles exakt nach Fahrplan, ohne jede Verspätung. Es blieb niemand übrig um zu berichten; lediglich die Höhlenmalereien im Urinstein des Absud zeugen von der Apokalypse. Untertitel: Wir haben es kommen sehen, und es hat uns nicht kalt gelassen. Unbeugsam schlecht bis zum Ende. (…) “Letzte Runde war schon!”, trompetet Flo Bär den letzten Gast an, der schon vor Stunden so breit war, dass sein Gesicht in eine Portion Spaghetti mit rotem Pesto sackte. Doc Strothmann trollt sich, schleicht sich durch stehende Luft davon. Den gesamten Weg vom Absud bis zum Bermuda-Dreieck wird er den Verdacht nicht los, einer Ungereimtheit auf der Spur zu sein. Im Absud stellt derweil Flo Bär das Tropfblech hochkant und lamentiert: “Von wegen keiner übrig. Ist sogar noch einer übrig der sich den ganzen Sermon anhören darf.” Er sehnt sich nach einem schönen, richtig kühlen Bier, in einem zur Bar umfunktionierten Weinkeller tief unter der Erde, dessen schanktechnisches Niveau der Hitze gewachsen ist. Schweißströme teilen die feinen Kupferdrähte seiner zurückgekämmten Haare, sortieren sie zu schütteren Streifen. Während Flo Bär letzte Verrichtungen tätigt, Vorkehrungen für den nächsten Tag, Geschirr sortieren, Kasse machen, wird sein Zorn auf Fahrradfahrer unmäßig, die einem am Kanal so langsam entgegen kommen, dass der Fahrtwind kaum spürbar ist.