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Entrobier

Stammkneipen sind für Gäste am Tresen vorgezogenes Hospiz, jedenfalls dann wenn die Holografien der Vergangenheit, abgelagert auf der fraktal gefalteten Fläche des Gehirns, keinen Horizont für Erwartungen und Hoffnungen lassen. Das Warten auf den Tod beginnt wenn die Zukunftsorientierung komplett durch Vermeidungsstrategien wie Bedauern oder verklärte Erinnerungen abgelöst ist. Hat man sich erst einmal in diesen Wartestand versetzt, der gekennzeichnet ist durch einen Stammplatz, einen bestimmten Barhocker, am besten zwischen Tresen und einem tragenden Pfeiler an den man sich lehnen kann, sowie durch eine fest zugeordnete Taste (Angrabnummer) an der Registrierkasse (42), richtet man sich ein und beobachtet die Morbidgemeinschaft bei der Mumifizierung. Gegen die mit zunehmendem Alter schneller laufenden Uhren, unvermeidliche Treiber von Panik, ist zwar kein Kraut gewachsen, im Register palliativer Strategien jedoch darf Kräuterlikör nicht fehlen. Fördert Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit und emotionale Verkarstung, lindert durch Abstumpfung die Furcht. Das Interesse an Kultur und Politik weicht der thematischen Fixierung auf Physik, wo alles Wesentliche an der Peripherie geschieht, nicht mitten im Leben. Das Prinzip Hoffung beruht auf der Apotheose der Randerscheinung. Der Mensch als randumerneuertes Akohologramm, das einen tragischen Kampf gegen die Gesetze der Thermodynamik führt, nachts ohne menschliches Umgebungsgeräusch vor Einsamkeit friert bis auf die Ebene der Planckton- Länge und deswegen erst möglichst nah am Koma das Gelage beendet. “Was ist aber…” fragt ein zerfurchtes Antlitz, dessen Alterung als Komposition aus Askese und riskantem Lebensstil getarnt ist…”wenn das Entropieproblem am Ereignishorizont nicht besteht, weil Informationen nur für Beobachter existieren und aus Sicht des Beobachters kein Objekt den Ereignishorizont je erreicht?” “Das wär schlimm. Dann gibts ja überhaupt keine Zerstreuung mehr. Und wohin dann mit dem beschlossenen Zerstreuungsgeld? Lloyd, halt mal ab. Bin Unterkante Oberlippe.” Becks Benny ist bereits der Dritte, den der Asket mit seinem Geplancke vom Hocker räumte. Er verdrückt sich mit den Worten: “Und immer schön den Anti-Baby-Sitter berappen”, zahlt Auslagen für zwei Schachteln Fluppen, die er lediglich wegen der elektrostatischen Anschmiegsamkeit des Plastiknegliges gezogen hatte, nicht so sehr wegen der Zigaretten, die trotzdem weg sind. Tief in der Nacht, unter dem Fingernagelmond eines Parallellfirmamentes, kommt er wieder zurück wie jedes Objekt in einem hyperbolischen Raum mit zusätzlicher Zeitdimension, unverrichteter Dinge an die er sich nicht mehr entsinnen konnte. Seinen Platz nahm en passant ein Habsburgersäufer mit langem, aber schlechtem Atem ein der darum wusste und deshalb auf Repliken verzichtete, was dem Asketen egal war weil der ohnehin nur rethorische Fragen stellte. Die eindeutig bessere Hälfte des Asketen umklammert den zahnpastagestreiften Strohhalm ihrer Bionade Holunder und blickt amüsiert auf einen Bierdeckel auf dem geschrieben steht: Absinth die Ohren. Wenn ihr Götterspeisengatte im weinerlichen Tonfall die Unmöglichkeit des Exitus heraufbeschwört wendet sie sich blasiert weltlichen Dingen zu. Von sich abzusehen hebt die eigene Vergänglichkeit nicht auf. Mumie 42 trinkt und raucht sich einem nächsten Nahtoderlebnis näher, er meint jedoch es geht nicht um seinen Tod. Die Sucht schärft die Beobachtung indem sie Affekte dämpft. Das Dämpfen der Affekte entspricht der Kunst durch Meditation zu mumifizieren, ist aber der grobe, harte Weg, Dehydrierung und soziale Verwahllosung, ungesunde und obendrein kostspielige Arbeit die einem niemand dankt. Die Koalkoholiker am Tresen hätten allen Grund dazu, denn die Be(ob)achtung ist die Zeitlupe, die ihren Niedergang durch Streckung der Nacht verlängert, weswegen der Abend in der Stammkneipe beginnt, nicht etwa im unheimlichen Heim. Etwas worüber sie mit Kindern ebenso wenig reden können wie mit Geliebten die ihre Kinder sein könnten ist wie es einem geht wenn der Tod nicht mehr der plötzliche, romantische Cut ist, der das Leben abrupt und ohne Siechtum beendet, entweder in Schönheit oder radikaler Zerstörung, sondern das logische unausweichliche Ende eines schleichenden Prozesses, dessen Symptome vorläufig schmerzfrei wenn auch unschön sind… Haut die viel Feuchtigkeitscreme benötigt, Atemlosigkeit beim Ausfall der Rolltreppe, Kribbeln in den Beinen, Vorboten der Stents und Bypässe, Eltern die um Morphium betteln, letzter Mohikaner der Familie sein, der Nächste sein der dran ist, im Fokus der unglaublich langweiligen und schon daher diskrimierenden Werbekampagne für Granufink zu stehen, und bevor man überhaupt geil ist ist man immer schon zu besoffen. Ein ekelerregendes Gespür für die Verengung des Korridors an erträglicher Zeit, eine präzise Eichung, die dem Rückblick auf eine Zeitspanne geschuldet ist die deutlich größer ist als die, die einen von der Verrentung trennt, trotz Rente mit 67… die lebensabendliche Perspektive auf den Hinterhof des Umschlagplatzes, der unbarmherzig Siege in Versiegen transformiert, bis das Tröpfeln und das Röcheln vorüber ist, die eigene Haut zwar locker sitzt aber nicht mehr teuer zu verkaufen ist, nicht mal als Mantel an die Körperwelten. Man wird nicht gelassener, man wird begehrlicher und eifersüchtiger, je weniger Zeit einem bleibt desto mehr hat man zu verlieren. Man weicht dem aus, flieht die Depression der Spartensender für die Generation Gold, die angeblich nichts anderes mehr zu tun hat, als sich Serien aus den 80ern rein zu ziehen, deren Saxofonmusik für ungeschützten Sex ohne Reue stand. Die einen leugnen dass ihnen dieser Prozess längst gemacht wird, stählen ihre Muskeln bis Hautalterung und Training sie aussehen lassen wie eine Figur auf einem Iron Maiden-Cover (kennen die Älteren noch), die anderen setzen sich in ihrer Stammkneipe fest wie Zahnstein am Zahnhals, lassen sich beiwohnen bei ihren Bemühungen den Nachwuchs an Unterhaltsamkeit zu übertreffen. Besser sich blamieren als überhaupt kein Publikum. Sie sitzen im Sterben, hoffen auf die Zeitdehnung als Lohn für ihren Exhibitionismus, darauf das niemand zu Tode kommt wenn die Voyeure nur neugierig genug sind, und dass man wenn es dann doch geschieht den Übergang so wenig spürt wie den Transit über den Schwatzschild-Radius hinein in das Verschwinden jeden Dialogs. Katja Ebstein hat Recht. Von sich abzusehen verzögert das Sterben der anderen, nicht das des Beobachters. “Altbier? Wieso trinkst Du Altbier?” “Weil ich alt bin.” Altbier ist eigentlich Jungbier. Der Physiklehrer starrt auf ein Tattoo und denkt: Information gleich Fläche. Deswegen ist das Gehirn so faltig und die Jugend so glatt. ‘Kennst Du 4400 - die Rückkehrer?’ Mumie 42 studiert die Effekte der sukzessiven Bindegewebsschwäche auf seinem Handrücken als er diese Frage in sein iPhone tippt, zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissend dass ihn die Adressatin aus der vorgezogenen Gruft ziehen wird, eine längst verstorbene jüngere Version seinerselbst vom Friedhof der Kuschelmänner heraufbeschwört mit allen bekannten verhängnisvollen Effekten. Er findet den Vorspann faszinierend, das geraffte Vergilben des Buches auf einer Parkbank, die Risse im zunächst makellosen Putz einer Hauswand, das Abblättern der Farbe eines Lattenzauns, so als sei Vergänglichkeit eine Angelegenheit pittoresker, unbelebter Details. “Mach nicht den Fehler die Patina gegen Empfindungen, die Du Dir mühsam in Jahrzehnten als Stammgast angesoffen hast, zu gefährden. Es kontaminiert Deine Stammkneipe wenn Du Dich öffnest.” Hatte der Graue ihn gewarnt kurz bevor er am Tresen nicht sein Leben aushauchte, aber von seinem Vollast fahrenden implantierten Defibrillator quer durch die Kneipe geschleudert wurde wie eine Unke unter Elektroschocks. Bei seiner Bestattung legte ein Zahnloser ein Perry-Rhodan-Heft auf sein Grab dessen erster Satz lautete: So ist es also wenn man tot ist. Mumie 42 ließ sich auf eine schockartige Wiederbelebung der Sinne ein und auf die Illusion ein Leben vor sich zu haben, in dem ihm alles längst Verbockte erst noch bevorsteht. Das führte dazu, dass er in ein Schwarzes Loch trudelte. Zu seiner Überraschung war es erfüllt mit Karnevalsmusik. Es-ist-noch-(Ur)Suppe-da! ertönte es im unbegrenzt gekrümmten Trichter aus Schmerz und Hohn. Der kommt wieder, denkt Lloyd der niemandem was leiht, kein Gast kann verloren gehen - zumindest solange er noch einen Deckel hat. “Wie läufts mit Deiner Schnapsdrossel mit der Vorliebe für Kraftausdrücke?” fragt einen Monat später John Locke Mumie 42, die in Rentnerklamotten neben ihm hockt. “Aus einer Laune der Natur wird kein gemeinsamer Lebensentwurf.” “Na dann vergiss es.” “Geht nicht. Physikalisch unmöglich.” Auf dem hypermodernen Großbildschirm läuft in HD eine Folge des Dschungelcamps in der jemand Tintenfischvaginas verschlingt. Detailtreue die ohne Quantenmechanik unmöglich wäre. Damit schloß Mumie 42 ihre Beobachtung ab, ließ sich auch nicht mehr blicken und las nur noch Romane von Philip Roth.