Gletschermilch
“Ein bisschen Nervenkitzel ist ja dabei, wenn man Bioweinschorle mit Gletscherwasser trinkt”.
Sie hatte ihn um einen Vorschuss gebeten, den er ihr in Ermangelung eines gedeckten Firmenkontos aus eigener Tasche zukommen liess. Bei Scherzen handelt es sich um leicht entschärfte Wahrheiten und so war es auch mit seiner Bemerkung: in meinem Alter begleiten mich schöne junge Frauen öffentlich nur noch gegen Geld, wobei er beim Denken des Begriffes `Begleiten` einen sentimentalen Schauer fühlte, der unterhalb seiner Nackenwirbel versiegte und in ein Gefühl der Lähmung überging wie man es bei einem leichten elektrischen Schlag verspürt, etwa bei Kontakt mit einem Elektrozaun.
Ihr Gesicht erinnerte ihn an den Fußballspieler Ailton, nur in hübsch. Ein zu großer Kopf auf einem kleinen, kompakten Körper, dunkle, beinahe handtellergroße Augen, fast so groß wie die des Mädchens auf dem Cover der Eels-CD `Freaks`. Einnehmende Ovale, die ihn entfernt an Zuckergussspiegeleier erinnerte, die er früher auf dem Weihnachtsteller immer liegen lassen hatte. Jedenfalls viel Fläche um darin zu ersaufen. Das wirkungsvollste Lockmittel, wenn man Männer ertränken will ist ein Jungbrunnen.
Er konnte sich an ihr nicht sattsehen, und das Praktische war, dass er diese Gier als Aufmerksamkeit tarnen konnte. Die Widersprüche zogen ihn an, der Unterkiefer beinahe der eines Pelikans, die Erscheinung eines kleinen, dicken Kugelblitzes, ein extrem offensiv figurbetontes Outfit, das einen frühen Bierbauch souverän betonte, eine künstlich höher gelegte, tiefe Stimme, das patente Organ einer Wurstfachverkäuferin, die sich in eine Multimediamarketing-Agentin mit Wohnsitz in Paris und einem palästinensischen Anwalt als Daddy verwandelt hatte, irgendsoeine Reinkarnationsgeschichte, bei der sich die Quellidentität zwar charakterisieren, aber nicht mehr bestimmen läßt. Alle Widersprüche zusammen bildeten ein liebenswertes Ganzes, inklusive der besonderen, langgezogenen Betonung des Umlautes ä, und des permanenenten Sich während des Gesprächs im Schankraum nach interessanten objektiven und lebendigen Accessoires umsehenden Blickes.
Auch bei dem Nervenkitzel-Satz sah sie zu nem Typ mit Glatze, dessen Charme auf der Unverwüstlichkeit seiner profanen Lebenslust trotz Privatinsolvenz und Polytoxikomanie beruhte. Immer lustig und vergnügt, bis der Arsch im Sarge lügt.
“Du hast Angst vorm Fuchsbandwurm!” folgerte er und sie lächelte und nuckelte an ihrer Flasche Schorle ohne ihn anzusehen. Sie mochte es, wenn sie jemand verstand, obwohl sie eine Äußerung von sich gab, die völlig aus jedem Kontext gerissen war, der sich einem anderen Menschen erschließen konnte. Oft wurde ihr erst dann bewußt, dass sie etwas aus ihrem inneren Monolog laut gesagt hatte, wenn jemand nachfragte: Wie bitte? Er fragte nicht nach. Er verstand, und das gefiel ihr, und bewirkte, dass sie sich um ihn sorgte. Mütterlich, wie es sich bei ihrem Altersunterschied geziemte, mütterlich, wie eine Pflegerin ein zwar gepflegtes, aber altes Wrack versorgt, dessen Sexappeal in Patina umgeschlagen war und um den sich eine Aura der verpassten Gelegenheiten zu einer Flasche Weißglas verdichtet. Ein bischen schade, zum Heiraten ist er zu jung und zu arm.
Wenig später werden die Platten der Bistrotische sich drehen wie von einem DJ bewegt, und dann auch noch eiern wie Teller auf den Stäben chinesischer Jongleure. Er wird etwas faseln davon sich mal total betrunken im Holocaust-Denkmal in Berlin verirrt zu haben, davon dass Edeka sein sozialer Mittelpunkt zu werden droht, dass er im Taxi Lokalverbot hat, Durchhalte- aber kein Durchsetzungsvermögen hat, dass er wenn er nachts schlafen kann träumt nicht schlafen zu können, dass die Angst davor bloßgestellt zu werden ebenso schlimm ist wie die Angst ums nackte Leben, wenn auch das eine nicht mit dem anderen zu vergleichen ist, und schließlich wird er Wasserfälle in das Nylonkar ihrer Bluse aus dem Sonderangebot heulen.
Das nächste woran er sich erinnert ist der nächste Abend, selbe Kneipe, selber Wirt:
“Was war denn mit Dir gestern los?”
“Oh, gestern war ein vergleichsweise guter Tag.”
“Sag mal”, fragt der Wirt, “weißt Du eigentlich wo Ailton mittlerweile spielt?”
Auf dem Oktoberfest schwört sich vor einer übermächtigen Mass hockend ein bleicher Kugelblitz, den es in ein rosa Dirndl knödelt, nie wieder etwas zu trinken, das tausendmal älter ist als sie selbst.