Bieroshima
Seitdem der Rauch sich verzogen hat sieht man die Menschenbilder im Absud mit der Detailgetreue, die einem während eines endgültigen Abschieds Tränen in die Augen treibt. Die Trauer erbarmungslos unkaschiert, Momentaufnahmen aus den Wartefenstern vorm Nimmerwiedersehen, von der schonungslosen Offenheit der Spiegelbilder in Aufzügen und von der Klarheit von Gebirgszügen nach dem Regen. Das Licht passend zum Durchzug, zum frischen Wind der nur vertreibt, nichts mit sich bringt. Der Rauch fehlt auch als Puffer akustischer Schärfe: alles, nicht nur die Farben, tritt zu deutlich zu Tage, es fehlt der Schleier der Gnade der noch die perfidesten Scherze auf eigene Kosten zu einem harmlosen Schulterklopfen reduziert. Jeden noch so fiesen Hieb unter die Gürtellinie polsterte das Suspensorium aus Rauch und Rausch, man fühlte sich geschützt und unbezwingbar wie in einem Football-Trikot. Zwischen sich und der Bitternis der Welt erstreckte sich ein feinherbes Dämpfungsfeld, das effizienter kompensierte als jede Trickserei Jordi La Forges. Bitte ein Bit statt Bitternis - als aromatische Verkürzung des beißenden Gestanks seelischer Verwahrlosung, der in der Unluft der eigenen Butze stand wie der Geruch verbrannter Reifen, waren Obergäriges und blauer Dunst ein Hochgenuss. Außerdem wollte man ja gar nicht nach Hause - solange die Tür nicht offenstand um zu lüften fand man hier fern der Heimat die verflogene Restwärme. Stechende Helligkeit bedeutet Atomraketen, nukleare Verseuchung oder zumindest einen Kopf in einer Hutschachtel. Vom roten Lack der Tresenplatte, von den Gläsern auf der Regalwand hinterm Tresen, von den Fenstern geht eine verhängnisvolle Strahlung aus, die das Gemüt durch eine Überdosis Transparenz kontaminiert - das ist nicht nur Resultat des abgezogenen Rauchs, sondern auch des daraus folgenden Ausbleibens der Gäste, welches zu der verzweifelten Putzwut des ansonsten beschäftigungslosen Personals führt. Seit die Entsagungspest in Form einer Untersagung von Lebenslust grassiert, sind die Fenster so sauber, dass die Sonne später untergeht. Im Schankraum ist es zugig und kalt. Gäste und Personal versammeln sich zum Schmauchen auf der Demarkationslinie unter der Türzarge, als suchten sie Schutz vor einem Erdbeben. Die ständige Migration vom Tresen zum Treppenabsatz und retour macht vor keinem Dialog halt, wer aus dem Rhythmus fällt und zu spät rauchen geht, dem kann es geschehen, dass sich mitten im Satz der Gesprächspartner wie ferngesteuert abwendet, magisch angezogen von der zweidimensionalen Scherenschnittwelt der Raucher auf dem Treppenabsatz, und einen schmachtend am Tresen zurücklässt, woraufhin man selbst zu den Anderen trottet und gemeinsam mit Gleichabhängigen schaudernd zurückblickt auf verlassene, aber volle Gläser, die von einem grade stattgefundenen Riss im dimensionalen Gefüge der Rauchzeit zeugen. Es regnet und man hat sich zu entscheiden: lässt man das Bier drinnen verschalen oder lässt man es draußen verwässern. Schlechter unbequemer Wahlzwang. “…und wenn ich Öl ins Feuer giessen könnte würde ich es tun…”, erregt sich Lloyd, “…würde uns die EU nicht vorschreiben das man dazu normkonforme Kännchen zu verwenden hat.” Ob Objekte Quantenobjekte sind hängt von der Größe des Beobachters im Verhältnis zu den Objekten ab. Sind Galaxien ferne Augen mit Schwarzen Löchern als Pupillen, dann lässt sich das Zittern und die Empörung der Gäste auf der Brane zwischen dem Kaltduscher-Areal Biergarten und dem verwaisten Schankraum als eruptive Quantenfluktuation mit unberechenbaren Konsequenzen beschreiben. Daraus wird indes keine wörtliche Rede weil es hier seit Wochen nur ein Thema gibt: Resistenz gegen die Öko-Nazis und die Endlösung der Raucherfrage. Es schwingt Verzweiflung mit. Brandsätze bei dem Dauerregen? Schon jetzt lauert im Schweigen einiger Treppengäste der Überdruss: `ich kanns nicht mehr hören, das Gejammer der Wirte, als gäb es nichts Wichtigeres`, und…`man gewöhnt sich dran und kann es ohnehin nicht zurückdrehen.` Wie lange dauert es bis dem Strohfeuer der Strohrum ausgeht? Jeden Abend trifft man sich ein letztes Mal, weil man nicht weiß wann die Stammkundschaft zur Auflösungserscheinung mutiert. Der Brandlöscher wird zum Brandstifter, gegen Einbruch ist er versichert, nicht aber gegen Umsatzeinbruch: “Das Gesetz muss weg. Wusstet ihr dass für die Kantine des Landtags das Rauchverbot nicht gilt? Lass uns da hin fahren und für jede gestorbene Kneipe ein Kreuz vor der Staatskanzlei pflanzen.” Lloyd blüht auf als Agitator, hat sich lange nicht mehr so wütend gefühlt, so gerecht zornig, so politisch!. So…jung. “…und in jeder Kneipe sollte ein Plakat hängen mit dem Spruch von Mehmet Scholl: Hängt die Grünen solange es noch Bäume gibt.” Ach ja…sein Epos bergab. Grundsätzlich stimmen die treuen Stammis, die Vorderbänkler am Tresen, ihrem Dealer zu. Aber es geht doch auch ne Nummer kleiner. Alle Wirte mit Hibukashi einer von verstrahlten Sozen und Ökodiktatoren gezündeten Abstinenzbombe gleichzusetzen - auf die Frage was Hibukashi sind folgte eine ellenlange historisch-technische Abschweifung so als gebe es kein morgen und müsse heute alles gesagt werden - ist abstrus. Widerspruch regt sich dennoch keiner. Man sieht sich in die Augen und fragt sich stumm: und wo gehst Du hin wenn der Laden dicht macht? Weil es wegen der ständig offenen Tür in der Kneipe zieht, weil der Wirt mies drauf ist, weil Stammgäste zwischen Endzeitstimmung und Schlaganfallprophylaxe, zwischen Widerstand gegen kulturelle Bevormundung und gesundheitsbewussterem Leben schwanken, weil kaum ein echter Raucher durchhält, bis Lloyd um 23 Uhr, wenn man unter sich ist, die Aschenbecher auf die Tische knallt, fällt kaum auf, dass sich parallel zur Verkürzung der Aufenthaltszeit und der damit verbundenen Konsumreduzierung neue Mitglieder der Resistance anschliessen. Seit neuestem taucht der deprimierte, triefäugige Polizist, dem Kummer über die verpatzte Berufswahl ein Netz geplatzter Äderchen auf die dezent gebräunte Haut über den hohen Wangenknochen gespannt hat, nicht mehr nur sporadisch auf. Ein durchtrainierter Typ, dem man die Ausrede Überarbeitung und Stress für seine von durchzechten Nächten erschlafften Gesichtszüge noch abnimmt. Leistungssport und Sauftouren sind noch indifferent, beide Ausdruck eines Ehrgeizes, der umso maßloser wird, je rapider die Überzeugung schwindet eine sinnvolle Tätigkeit auszüben, so dass schließlich nur noch die nackte Karriere und der Stärkebeweis in Promille bleibt; der zwängt sich seit neuestem täglich in die schmale Scharte zwischen Rein und Raus, in der man sich alle fünf Minuten zum Powwow mit Pallmall versammelt. “Ich sehe das jeden Tag, die Krawalle und die Kriminalität kommen ständig aus den selben Milieus. Ich bin kein Rassist, aber grade wir Bullen können die Augen nicht davor verschließen.” Er bestätigt damit die neue Kellnerin, die Strothmann im Traum mal als Neanderthalerin begegnet war, die aber nur aus jugendlichem Leichtsinn eine Überdosis Botox genommen hat: “Mir ist gestern im Shop das Portmonee geklaut wurden und mit Sicherheit waren das Türken.” Was für ein weltoffenes Land doch Deutschland ist, in dem man wie in anderen Ländern auch so was endlich mal wieder offen sagen darf. Denkt sich der Dieb, der sich einen Spass daraus macht sich unter die völkischen Beobachter zu mischen, wobei er nur zum Vergnügen hier ist, weil man nicht da scheißt wo man isst, während der Shop sein eigentlicher Arbeitsplatz ist, ein mittlerweile prekärer allerdings, da der Besuch so überschaubar ist, dass er selbst im dicksten Nebel ethnischer Vorurteile aufzufliegen droht wenn die Opfer nicht besoffen genug sind. Ist jetzt auch öfter hier, ein Lutscher, der sich zu jedem Thema ungefragt äußert, immer im Tenor: ich weiß was, was ihr nicht wisst: “Die häufigste Fremdsprache in Deutschland ist übrigens nicht türkisch, sondern russisch.” Das entspricht seiner Persönlichkeitsstruktur und ist zugleich seine Berufskleidung - Nervensägen traut man keine kriminelle Energie zu, das ist in Krimiserien so wie im wichtigen Leben. Wer einem die Zeit stiehlt klaut einem nicht die Uhr, vice versa. Das ist die spezielle kriminelle Relativitätstheorie. “Ich rauche jetzt seit sieben Jahren nicht”, meldet sich ein neuer Neuer zu Wort, “aber dieses sogenannte Nichtraucherschutzgesetz ist ein Raucherstigmatisierungsgesetz. Ein kultureller Kahlschlag. Ich finde die Nichtraucher sollten eine Kampagne gegen das Rauchverbot starten. Das wär der Hammer.” Das geht noch bis zum Untergang der nicht zu sehenden Sonne so: dass es beim Rauchverbot um das Ausräuchern subversiver Stätten politisch nicht korrekten Denkens gehe, dass das Una-Bomber-Manifest richtig lag, aber nicht vorhergesehen hat, dass den regelungswütigen Minderwertigkeitskomplex linker Gutmenschen eine grüne Camouflage tarnt, die nichts mit dem Militär zu tun hat (obwohl mittlerweile…), dass (Wortlaut Prinzessin, die schon vor 20 Jahren den 12ten Grad geklettert sein will) als nächstes Hochprozentiges aus den Kneipen verbannt wird, so dass all die einsamen Rentner gar nicht mehr wissen wo sie hin und was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Die Prinzessin fängt an zu weinen, was ihr seit einer mit Kamelhöcker quittierten Nasenoperation häufiger geschieht sobald sie ans Altern denkt und/oder einen echten Biergarten im Regen stehen sieht, Bäume die niemanden zum Trösten haben und demnächst ohnehin aus Biergärten vertrieben werden, da ihre Wurzeln den Boden durchbrechen könnten und Stolperfallen bilden würden. Prophylaktisch sollte man in Biergärten jedwede Botanik verbieten. “Nicht traurig sein”, tröstet der über zahllose Aussöhnungen mit ihr und ihrem Barhöcker verwachsene stellvertretende Vertriebsleiter eines Büromaterialherstellers, “zur Not ziehen wir hier ein und alle die kommen sind unsere Privatgäste.” “Boah, ich geh mal wieder rein”, beschließt Skellington, “ist ja arschkalt hier. Und das mir der Letzte die Tür hinter sich zu macht.” Dem Herdentrieb folgend stakst und schlurft man in den ausgekühlten Stall. So geht es hin und her zwischen Tresen und der Nasszelle Treppe, mit diesem Standaschenbecher in dessen Hohlraum man mangels einer Öffnung nicht mal leere Zigarettenschachteln entsorgen kann. Menschen im Wechselstrom - eine zähe, kleine Jacques-Tati-Hommage in Schlurf-und Schlürflupe mit einem radikalisierten Hulot. Der Wirt ist reduziert zum Schwellenwirt mit Schwellenfunktion - auch wenn der Kamm ihm noch so schwillen wirt. Aus seiner Gockelsicht überall nur Pfeifen. Selten hält es einen aus der Schar der unentwegt Heimatlosen, die entweder immer schon hier waren oder immer schon hierhin gehört hätten bis in die Nacht, wenn zumindest Lloyd und Tabea Rasa die Aschenbecher rausrücken, der Prohibition zum Trotz. Skellingtons Erzählungen werden bald nicht mehr von ihrem Urheber erzählt und wenn, dann nicht hier, sondern in Wohnzimmernotgemeinschaften: “Da hab ich meiner Ollen für 10000 Öcken zwei neue Hupen geschenkt. Und watt macht die? Fängt was mit nem Kollegen von mir an und macht sich vom Acker. Dann ich zu dem Typen hin und sach: ey, Alter, wenn Du meine Olle vögelst dann zahl gefälligst eine von den Hupen.” Wenn Du weiter rauchst, hat ihm sein Arzt gesagt, hast Du mit Macromar vielleicht noch fünf Jahre. Macht das Absud endlich zu, kratzt er vielleicht die Kurve statt ab. Der Große Bauer wird sich hier nicht mehr echauffieren und krakelen, zieht sich zum Saufen und Rauchen in die Fahrerkabine seines LKW zurück und hört sich völlig benebelt die Bundesliga-Konferenz im Radio an. Deep Throat hat sich dem parasozialen Sog des Absud durch Zahlungsunfähigkeit entzogen, ein verdammt kalter Entzug. Bierko, Barbie Q und Becks Benny leisten sich den Luxus keine Lust mehr aufs Absud zu haben, statt sesshaft sind sie gesellig und umtriebig, brechen Studiengänge ab um neue zu beginnen, fangen eine richtige Arbeit an statt zu kellnern, akquirieren als Webdesigner neue Kunden, stieren in Kletterhallen dicken Sportlern auf den Hintern und nennen es Weight-Watching, treffen sich bei Kumpels zu Hause zu Yoga, Weißwurstessen und Wee, besuchen Inszenie- rungen in ehemaligen Luftschutzbunkern und in Lagerhallen unter Schienentrassen, trinken gepflegte Biere mit eingebildeten Zynikern, die in Wirklichkeit hoffnungsvoll bis ohnesinn sind und den Unterschied zwischen Sucht und Koketterie noch nicht kennen. Robin Sun und Tür-Kai haben den Dienst quittiert, schauen nur gelegentlich vorbei um zu checken wie weit der Laden schon abgesoffen ist. Das hat was von einem Lazarett mit Todgeweihten, in dem auf den Verlauf des Siechtums neugierige Bekannte ein- und ausgehen, nicht ohne interessierte Blicke auf Display-Anzeigen zu werfen, die sowohl zu Herz-Lungen-Maschinen, als auch zu Kaffeemaschinen, als auch zum Cockpit eines Helikopters gehören könnten. LCD hat LSD den Rang abgelaufen. “Wenn die Wirte”, insistiert Lloyd dem Mann mit Prinzipien gegenüber, “nicht alle solche Schnarchnasen wären, die immer noch denken das wird schon nicht so schlimm, dann würden sie alle zusammen das Rauchen erlauben. Was glaubst Du wie schnell die ganze Sache vom Tisch wäre.” “Glaub ich nicht”, wendet der Mann mit Prinzipien abgeklärt ein, “dann gäb es nur neue Debatten über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.” “Genau”, kichert der Dieb beim Einatmen, “Die Freiheit Deutschlands wird auch an den Stammtischen verteidigt.” Letzte Worte vorm gemeinsamen Ertrinken, und das in einer Kneipe. Kennt man aus Filmen. Wortkarge Helden des Untergangs, die in einen heroischen Tod gehen, weil sie selbst einsehen, dass die Gesellschaft keinen Platz mehr für sie hat und die Familie sie wegen erwiesener Unfähigkeit zu Recht und irreversibel verstoßen hat. “Absinth ist ein schönes Getränk”, sinniert die Prinzessin, “wie flüssige Edelsteine.” “Hör mir auf von Rot-Grün zu reden”, motzt Lloyd ohne Lächeln in der Stimme, “früher hat diese ganze Politikerkaste sich wenigstens noch die Mühe gemacht uns zu belügen, heute haben die noch nicht mal mehr das nötig.” Es herrscht keine fröhliche Weltuntergangsstimmung unter den Zurückgebliebenen, der Handvoll Gäste die hier sind, weil sie Muffensausen davor haben augenblicklich zu Asche zu zerfallen sobald das Absud die Pforten schließt. Degenerierte Ratten, die das stinkende Schiff nicht verlassen, weil sie ohnehin nicht schwimmen können. Lloyd schiebt Sorgen wegen seiner Gäste, so wie Plantagenbesitzer tief bekümmert sind wenn ihre Sklaven krank sind, Dealer betroffen sind, wenn ihre Kundschaft die Grenze zwischen Sucht und Agonie überschreitet und Mohnbauern in Dürrezeiten wegen des erbarmungswürdigen Darbens ihrer Pflanzen trauern. Dieses Mitleiden hat nichts mit befürchteten Umsatzeinbussen zu tun, nein, er mag die Gäste die sich bei ihm zu Grunde richten, redet dem einen oder anderen sogar ins Gewissen es besser nicht zu übertreiben. Er ist ein barmherziger Dealer, weswegen er nie einen ausgibt. Solange seine Gäste bezahlen behalten sie das Gefühl für die gebotene Balance von ökonomischem Funktionieren und allabendlichem Sedieren. Ohne ihn werden sie einsam in der interstellaren Leere jenseits der Stammkneipe an sich ersticken. Zum Beispiel Strothmann, der ihn in einigen Phasen seiner Alkoholographie mit anderen Pinten betrogen hatte aber immer reumütig zurück- kehrte. Lloyd mochte ihn nicht, aber trotzdem war er ihm über die Jahre aufgrund seiner Treue ans Herz gewachsen wie ein koronares Furunkel. Beziehungen beruhen auf Zuverlässigkeit, nicht auf Zuneigung, auf Rollenkonstanz, nicht auf Liebe. Dieser Umsatzriese, dessen autodestruktive Konsumgewohnheiten durch Erbschaft entgrenzt wurden, wird eingehen wie eine Primel wenn kein Milieu mehr existiert, in dem die Illusion eines vielleicht nicht intakten, aber kompakten sozialen Umfeldes (`das nicht gleich umfällt` wäre ein typischer überflüssiger Strothmann-Annex) erzeugt wird, das dem blanken Wirrsinn seines rhapsodischen Geschwafels und seinem Gebärdenkaraoke Aufmerksamkeit zollt. Fällt das weg wird er bei jedem erwartungsfohen Öffnen einer Kneipentür wieder die postapokalyptischen Trümmerlandschaft seiner seit Dekaden gastlosen aber geräumigen Wohnung betreten, Gefangener eines selbstreferenziellen Holodecks, dessen Ausgänge keinen Ausweg gestatten. Das redet er sich schön, so wie jetzt: “Männer sind deswegen bindungsunfähig weil sie lösungsorientiert ist”, setzt er der Prinzessin auseinander, die ihm am liebsten die Zunge in den Hals stecken will damit er endlich die Schauze hält, notfalls sogar ihre eigene. Lloyd läuft ein kalter Schauer den Rücken herunter, als ob Kaskaden aus Spiegelneuronen sein Rückenmark steißbeinwärts durchströmen. Wohin geht er selbst eigentlich, wenn er seinen Laden liquidiert? Es ist schon allein eine Zumutung dieser Dreckspolitik, sich auf einmal in der Situation seiner eigenen Spirituosenerwerbsabhängigen wieder zu erkennen, als Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein und zum Rauchen vor die Tür zu müssen. Lloyd trinkt in Maßen, ist der Auffassung ein guter Dealer sei kein Konsument der eigenen Droge. Ihn beschleicht die mittlerweile alltägliche Furcht vor der temporalen und monetären Kluft, die sich auftut, sobald die frühen Stammgäste später kommen und sich früher trollen, die üblichen Verdächtigen die normaler Weise schon an der Tür kratzten und miauten bevor der Wirt die Pforte zur Glückseligkeit öffnete, dann bis Ladenschluss hier hockten, um auf der langen trägen Welle des Zugangs und Abgangs von Kumpanei zu surfen, die sie spät nachts sanft und versöhnlich auf dem Gehweg absetzte. Diese Kluft schließt sich erst um Mitternacht mit Ankunft der Emotions- arbeiterinnen der letzten Peepshow vor der holländischen Grenze, ohne dass dies das Umsatz- und Stimmungsdefizit wettmacht. Also gönnt er sich ohne den ganzen rituellen Schnickschnack einen schnörkellosen `Ekanit`, ein Absinth der neu in seinem Sortiment vertreten ist und dessen Name einem radioaktiv strahlenden Edelstein entlehnt ist, aus dem er gerne eine Halskette für Frau Steffen schmieden würde. Er kippt das strahlende Gesöff in einem Zug, stellt das Glas ab, senkt langsam den Kopf und kalibriert seinen Blick neu. Über die unermessliche Leere des Schankraums hinweg blickt er auf das Getümmel unter der Tür und kommt sich vor wie ein von Menschen geworfener Schatten, den ein atomarer Lichtblitz unverrückbar auf eine Hausfassade bannte. Er steht so mit dem Rücken zur Wand, dass er ihr regelrecht gleich wird. Sobald die Stammgäste weg sind bin ich Opfer. Bis kurz vor Mitternacht kommen nur noch Fraggles.Trotz rechter Gesinnung heillos besoffene Hooligans, die wissen wollen wie man zum Eierberg kommt, obwohl sie nicht mal mehr die rechte Hand hochkriegen; psychotische Angestellte im öffentlichen Dienst, die ihm überfallartig die Zunge ins Ohr stecken; Rentner, deren Bindegewebsschwächen in einer imposanten, hängenden Tellerlippe kulminieren, die es unmöglich macht Bier zu trinken ohne mindestens die Hälfte zu verschütten. Alle treten sie auf den Plan wenn niemand sonst außer ihm zugegen ist, als hätten sie ein Gespür dafür wann er ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit nur unter Anwendung von roher Gewalt entgehen kann. Niemand da für den er die Notwehr hätte inszenieren könnte, eine Gelegenheit zur Demonstration von Entschlossenheit, die ihm früher, als das Absud immer gut besucht war, zumindest nachträglich verdammtes Vergnügen bereitet hätte. Die Kulturschockwelle hat das Absud leergefegt, selbst die Stammgäste die kein anderes Zuhause als dieses haben verschwinden in der Dämmerung, weil sie der Belastung durch den sich ständig wiederholenden Rauswurf aus dem Paradies nicht dauerhaft gewachsen sind. Lieber mumifizieren als wie ein Aussätziger behandelt zu werden, dem letzte Lebensfreude dadurch vergällt wird, dass er sie bibbernd als ausgestoßener Paria `geniessen` soll, weil ein rotgrünes Apartheitsregime verordnet hat, dass Asozialen, die die Umwelt vergiften, kein Genuss zusteht, es sei denn sie sitzen im Landtag. Die Stammgäste lösen sich aus dem Bild im Türrahmen, reihen sich auf um zu berappen, jeder ein Quantum Trost, das ihn verlässt: “Tschüss Lloyd, bis die Tage”, verabschiedet sich der `Beauchumer`, der im gesetzten Alter immer mehr an Jupp Heynckes erinnert, er verabschiedet sich nicht mehr mit “Bis morgen in alter Frische”. Ebenso zuckeln Strothmann und der Mann mit Prinzipien ab, schließlich bleiben noch zwei Nikotinager über die einen Zweiertisch besetzen und über Filme diskutieren. Lloyd kann nicht anders als hinhören wenn es um Filme, Musik oder Geschichte geht: “Cloudatlas”, hört er Mechthild Grossmanns Stimme aus dem Mund einer zerbrechlichen, blonden Tofifee mit Penelope Garcia-Brille, der synästhe- tische Kontrast hat was von `Der Exorzist` und all den Filmen, in denen Besessenheit durch tiefe Stimmen aus dem Mund von Unschuldsputten akzentuiert wird, “ist Wolkenkuckkucksheim. Ich glaube nicht an Physik als die neue Metaphysik und an die ewige Liebe über kulturelle und soziale Grenzen, über die Grenzen von Raum und Zeit und über den Tod hinaus. Da hat einer ein bisschen Brian Greene gelesen und meint nun verstanden zu haben, dass Quantenverschränkungen die Möglichkeit zwischenmensch- licher Bindungen eröffnen, die das Dasein der jeweiligen sterblichen Pole dieser Bindung überdauern. Also scheiss auf Klassenkämpfe, Interessengegensätze, das ganze menschliche Elend, die Ausbeutung, die Gewaltherrschaft, die Unterdrückung, die Verpestung der Umwelt, wenn Du wirklich liebst bist Du eh erlöst, weil nur Du den Fangschuss kriegst, aber Deine Liebe überdauert. Das ist ein solcher Quatsch. Quantenverschränkung entgrenzt die Bindung der Teilchen, die unabhängig ihres raumzeitlichen Abstandes bestehen bleibt. Und dann soll die Verschränkung ausgerechnet auf diesem Planeten stattfinden? Erlösungsphantasie und Anthropozentrik, sozialer Fatalismus und Hauptsache die Tragödien sind schön. Das Tykwer drauf reinfiel verstehe ich. Dass die Matrixer drauf reinfallen erst recht. Aber dass Dir der Film gefällt finde ich echt ätzend.” Der so Gescholtene, ein Typ mit kupferrotem Schamhaartoupet am Kinn, bleibt cool, schnappt sich mit Papageienschnabel von Daumen und Zeigefinger sein Becks Lemon, steht auf und ersucht sie: “Weißt Du Liz, wenn Du Schluß machen willst, dann halt doch keine Predigt. Dazu ist mir die Zeit zu schade.” Eigentlich geht er zur Toilette, aber in Lloyds luzidem Bezugssystem kommt er nicht so weit. Der `Ekanit´ lässt ihn Dinge sehen die nicht existieren und sie dadurch so erkennen wie sie sind, also setzt Fusselkinn sich an den Tresen und textet ihn zu: “Gestorben im Gedächtnis, wiedergeboren auf Facebook, dem globalen Zettelkasten der Detailleichen, schreib etwas in meine Chronik, Du Vakuumenergie- fachwirt der Zeit, dessen Rechtschreibprogramm unvorhersehbar in andere semantische Universen tunnelt, die nicht parallell, aber prall, die sinnvoll, aber dadaistisch sind. Dein Außenseitertum ist zu Verlassenheit geronnen, die Verwunderung darüber mit 50 noch zu leben ist mit den Händen zu greifen, müsste ich nicht permanent beidhändig das Glas heben, während Du Dich wunderst dass Du noch bist und Dich fragst, wozu eigentlich… siehst Du das Fenster in der Ferne, das einzige Fenster in einer abgeschmirgelten Fassade, ein Fenster, das seiner ursprünglichen Bedeutung finis terra alle Ehre macht, weil es keinerlei Einblick gestattet, es ist geteilt in zwei undurchdringliche Hälften, Rollade oben, schwarzes Rechteck unten, und jeden Tag rückt das Fenster ein Stück näher solange bis es Deinen Horizont einnimmt…” Lloyd bleibt gelassen, spült ein Glas und denkt sich: “Auch wenn Du eine Halluzination bist darf ich trotzdem fragen worauf willst Du hinaus?” Die Kinnvagina kippt sich einen hinter die Binde, Lloyd ist erleichtert dass Strothmann nicht da ist, der ein blödes Wortspiel daraus gemacht hätte. “Im durchgepausten Universum”, setzt Fussel fort, “kehrt sich nicht nur die Zeit um, sondern auch die Ladung, die Krümmung der Raumzeit, die thermodynamischen Gesetze. Befände sich der Betrachter im schwarzen Loch so liefe die Zeit für ihn außerhalb des Ereignishorizontes rückwärts, während für den Betrachter außerhalb des schwarzen Lochs die Zeit ganz normal vorwärts läuft. Das schwarze Loch ist ein Prisma, das sämtliche auf der Innenfläche des Ereignishorizontes gespeicherten Bits nach außen abstrahlt, so dass für die Betrachter außerhalb des Ereignis- horizontes ein weißes Loch entsteht, das sie aufgrund der generellen Umkehrung der physikalischen Prinzipien, die dem cerebralem Betrug gleicht, der uns die Bilder nicht auf dem Kopf sehen lässt, als schwarzes Loch wahrnehmen lässt, was etwas mit der Quantisierung der Raumzeit als solcher, der Frage ob ein zweidimensionales Gebilde ohne Rückseite existiert, sowie mit imaginären Zahlen, der Differenz zwischen Imaginärem und Realem, der unscharfen Relation von Lacan und Heisenberg, dem Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten, und schließlich auch mit der aufgrund der fraktalen Oberfläche unbegrenzten Speicherkapazität des Gehirns zu tun hat, die den Informationsverlust in der dreidimensionalen Raumzeit kompensiert. Die Beweisführung ist kompliziert, führt indes zu klaren Maximen. Wenn Fläche gleich Information ist kann ich nur empfehlen viel fernzusehen und die Möglichkeiten des Rückspulens auszuloten. Vertrau dabei nicht Deinen latenten Talenten, Du bist kein Romancier, aber wenn Du die richtigen Menschen findest um sie zu verheizen sparst Du Energiekosten, mit den richtigen Verbündeten für die chronologischen Korrekturen erhält Dein Leben wieder einen Sinn.” Lloyd greift nach jedem Strohhalm. Er lallt: “Dark Side of the Moon rückwärts spielen! Die Zeit zurückdrehen! Joschka Fischers Geburt verhindern! So kommen wir ins Geschäft!” …das so laut, und unter Hämmern der Faust auf den Tresen, dass das Pärchen am Zweiertisch denkt es sei im falschen Film. Das findet es aufregend und beschließt noch ein paar Mixgetränke zu verweilen statt sich in einem zum Kino umgebauten Bunker `Hiroshima mon Amour` anzutun. “…das wird astronomische Gastronomie!” jubelt Lloyd. Die beiden absolvieren derzeit ein Praktikum beim Ordnungsamt und während Lloyd die Aschenbecher auf den Tresen ballert denken sie darüber nach was sie sein werden: Denunzianten, oder passive Rauchverbotsgegner, die nebenbei mit Verweis auf Personalmangel noch ihren Beitrag dazu leisten neue Stellen zu schaffen. Das Ordnungsamt als Robin Hood der Enträucherten. Die Standortbestimmung ist unscharf, die Tendenz klar.