Blauäugig
“Das geht rucki-zucki”, konstatiert hemdsärmelig der Banker, “erst gehst Du durch die Straßen und denkst beim Anblick der jungen Leute, Du bist ja nur ein paar Jahre älter. Dann gehst Du durch die Fußgängerzone und denkst, Junge, Du bist ja doppelt so alt. Eh Du Dich versiehst sitzt Du in der Fußgängerzone, weil ein Pfleger Deinen Rolli schiebt und denkst, kommt ihr erstmal in mein Alter.”
Die Moral von der Geschichte bleibt er schuldig. Es ist allgemein bekannt, daß seine stories pointenblank sind. Das macht sie insofern spannend, als man in Ermangelung einer Auflösung immer ihr Ende verpaßt. Man kann nicht umhin, immer zu denken, da kommt noch was, er nimmt nur einen Schluck Bier, dann redet er weiter. Doch er stellt das Glas Bier ab und schweigt lächelnd, die Unterlippe keck vorgeschoben, oder schneidet ein völlig anderes Thema an, während unter dem Deckenventilator sein fassungsloses Publikum vergeblich darauf wartet, dass der Faden wieder aufgenommen wird. Eine ähnliche Erstarrung befällt das Publikum eines unvorhersehbar endenden Kinofilms in Anbetracht des Nachspanns: Watt? Das wars jetzt?
“Und weiter?”, erkundigt sich ungeduldig der Madame-Natalie-VerSchmidt. Der Banker stutzt, beugt sich zu ihr herüber und sieht genau hin: neenee, die ist nicht in nen Schminktopf gefallen, sondern mit nem blauen Auge davon gekommen.
Der Banker lehnt sich zurück, nippt noch mal an seinem Bier. “Nichts weiter.” antwortet er, und überläßt sie ihrer amüsierten Ratlosigkeit und dem Hämatom unter ihrem Auge.
Die kaum volljährige Pächterin des Second-Hand-Ladens “Reclothe” von nebenan kommt hereingeschwebt. In das reife Schweigen Madame Natalies hinein setzt der Banker das i-Tüpfelchen auf seine Geschichte:”Eben!”, stellt er rechthaberisch fest.