Bäuerchen
Der Leiserülpser ist wieder da. Der nicht so richtig rülpst, sondern oral schmallippig
einen fahren lässt, so dass es klingt wie ein leises Zischen.
Warum ist er wieder da? Weil Bärchen aus `Er nennt sie Hase, und sie ihn Bärchen`
und Strothmann den heraufbeschworen haben. Gestern noch kurz darüber geredet.
Unsentimentale Nostalgie der Übriggebliebenen im Absud, der Rückblick ist was bleibt,
wenn die Kneipe keine Zukunft hat und ihre Geschichte besiegelt ist, jeder neue
Protagonist nur noch ein ins Kneipensterben Verl(i)ebter ist, der im Tod des Absud
seine eigene Erlösung sucht.
Nach langem Schweigen öffnet man in Ermangelung anderer Themen den Katalog der
verschiedenen Stammgäste, sag mal, hast Du den Leiserülpser eigentlich mal wieder
gesehen? Nö. Schon ne Ewigkeit nicht mehr hier gewesen.
Danach Pause im Dialog, kommunikative Ödnis von den Ausmassen eines Voids
zwischen zwei Filamenten, die durch rhythmische Saufgymnastik überbrückt wird,
bei der Weizenpokale die Keulen ersetzen.
“Wegen dem”, greift Bärchen das Thema noch mal auf, “muß man keine Vermissten-
anzeige aufgeben.” Der wurde ja auch nur zum Thema, weil man alles heute schon
durch hatte worüber man hätte reden können, die Todesstrafe für Whistleblower,
die Vor- und Nachteile der abkippenden 6, die Tragik der Eibohphobie bei Menschen
die Otto oder Anna heißen.
Wenn man vom Säufer spricht ist er - schruck! - zur Stelle, taucht so rasch auf, dass
sie das merkwürdige Gefühl beschleicht, er sei durch die Erwähnung seines Namens
nicht erst zum Erscheinen provoziert worden, sondern durch sie schon den ganzen
Abend hier gewesen, so als hätte ihr Dialog eine alternative Vergangenheit erzeugt.
Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass sie beide sich weder an sein Kommen, noch
an den Beginn seines nasalen Monologs erinnern:
“…Bieroglyphen hab ich mir auch zu Gemüte geführt. Sind immer noch schön.”
Es ist später Abend. In der abklingenden Dämmerung huschen mit Reflektoren
versehene Fahrräder vorbei wie überdimensionale Libellen. Auf dem Zenit des Kreuzweges
zwischen Kneipeneingang und Biergartenzugang, Kathete des Schnittflächen-Dreiecks,
das Hauptstrasse, Nebenstrasse und Frontwand des Absuds bilden, und dessen
Flächeninhalt demjenigen des Biergartens entspricht, verharrt so feist und
massiv, dass er merklich die Raumzeit krümmt, Basti Fantasti, der Schöpfer diverser
unfreiwilliger kulinarischer Humoresken, neben sich eine IKEA-Tüte randvoll mit Feuer-
zeugen, so randvoll, dass sie über die Kanten der Tasche kippen.
Seine Gravitation und der Wurzeldruck der Bäume heben den Asphalt an, so dass Basti
Fantasti grotesk überhöht ist, und keiner getroffen wird als er `Helau!` rufend die
Feuerzeuge in die Menge imaginärer Gäste schleudert, die er tief im Hintertreffen
des Biergartens lokalisiert.
Das ist nicht so irritierend wie das abrupte Schweigen des Leiserülpsers, das Bärchen
und Strothmann nur als beredt auslegen können, da unvorstellbar ist, dass sein Redefluß
tatsächlich versiegt. Der Leiserülpser blickt abwechselnd Strothmann und Hase gütig-
herablassend an wie ein Pauker in einem Heinz-Rühmann-Film, der möchte, dass sein
Schüler den Satz vollendet. Sein Gesicht ist eine Kreuzung aus Eule, Habicht und
Mazipanschwein. Strothmann tut ihm den Gefallen, weil dann wenigstens ein Kapitel
in der mehrbändigen Erzählung zu Ende sein könnte, die der Leiserülpser vorträgt,
und wenn er sich nicht auf das Spiel einläßt bauscht der Leiserülpser diese Verwei-
gerung auch noch zu einem Nebenstrang der Erzählung aus, also:
“Du willst damit sagen nichts Neues, seitdem.”
“Ist wirklich nicht viel passiert. Ein bischen enttäuschend. Ist immer dasselbe seitdem.
Sind ja auch immer die selben Figuren.”
Also in seinem Leben hätten sich gewaltige Änderungen ereignet. Er habe ja schon
erzählt, dass ihm nach einem Intermezzo als Handball-Torhüter und einer schmerzhaften
Kollision mit einem Kreisläufer ein Arzt eröffnet habe es sei Aus mit dem Traum vom
eigenen Kind. Was er sich dabei gedacht habe auf das Suspensorium zu verzichten?
Ob er gar das Risiko billigend in Kauf genommen habe so nach dem Motto, ich kann
mich nicht zu ner Vasektomie durchringen, aber vielleicht nimmt ein tragisches Unglück
mir die Entscheidung ab? Ja und dann habe er diese Französin kennen gelernt, und voila,
da ist die auf einmal schwanger, und er fällt aus allen Bäumen, an dem Abend sei er hier
gelandet und hätte sich besoffen, jetzt sei er Pappa, und sei das erste Mal wieder hier,
weil sein schatz ihm frei gegeben hat, und es sei gar nicht so schwer Pappa zu sein,
und was sie beide denn trinken, denn er gibt ne Runde.
Bärchen und Strothmann akzeptieren. Ist das Beste was man draus machen kann. Sie denken
zurück, an die fruchtlos (Weizen bitte ohne Zitrone) um die Ohren gehauenen Nächte,
die Flucht vor der Hitze und Stickigkeit der Wohnung im Sommer, die äquivalent zur
Einsamkeit ohne Partner oder zum Überdruss am Partner im Winter sind, die Nichtigkeit
des Stammtischgeredes, das vor Jahrzehnen mal revolutionär und kreativ gewesen
sein mochte…
Robin Sun hat aufgehört zu kellnern.
Flo Bär hat in den Sack gehauen.
Lloyd lässt eine Frau an sich heran, die seine Angestellte ist und wurde letztens sogar
in einem Sakko gesichert.
Der Graue hat sein Leben ausgehaucht.
Strothmanns Leben wurde so auf den Kopf gestellt, dass es ihm beinahe das Genick brach
(dem hat er durch Schwänzen des Yoga-Kurses vorgebeugt).
Dank des Nichtraucherschutzgesetzes ist das Ende der Welt, die sie kennen besiegelt.
Nichts ist nicht Nichts. Das Vakuum fluktiert, erzeugt Universen, löscht Universen, zieht
sie auf links.
“Ihr redet mir hier zu viel über Fussball, meinem Sohn würde ich Fußball erstmal
verbieten.” stellt der Leiserülpser klar, “der soll Handball spielen. Genau wie Papa.”
Bärchen liegt eine Frage auf der Zunge, die so lautet: Wozu hat sich denn bei Dir
jetzt alles geändert wenn Du willst dass Dein Kind nur Dein früheres Leben kopiert?
Das frische Weizen ist herrlich kühl. Es ist windstill und drückend. Er setzt das Glas
an, und alles was ihm auf der Zunge liegt spült der Durst in die hohlen Tiefen
seiner selbst.