Nullen
Die stechende Klarheit der Embleme auf den Tasten des Ziggiautomaten,
scharf und klar wie Berggipfel nach dem Gewitter.
Der Abend nach seinem runden Geburtstag, alleine im Absud. Lloyd gab einem
Liegengebliebenen Starthilfe, es lief keine Musik. Dr. Strothmann hatte den Raum für
sich allein. Der Geruch aus dem Herrenklo, noch nicht überlagert von Rauch, beschwor
das einstige Aroma der Emscher herauf. Ihr unverwechselbarer Gestank, bevor sie
von der Kloake des Reviers zum Nil eines Landschaftsparks ge- und verklärt wurde.
Seine Kindheit. Bolzplätze am Rand der Emscher. Ausgasungen der Öltanks
im Keller der Einfamilienhaushälfte. Mutproben in der Kanalisation.
Dr. Strothmann ist auf der Flucht vor der verlorenen Zeit, die ihn einzuholen droht:
als Erinnerung an verpasste Gelegenheiten. Ein probater Fluchthelfer ist das
Kurzzeitgedächtnis, man kann nicht viel verloren haben von gestern auf heute.
Mit Deep Throat hatte er die Glatze gemeinsam, zwei Eierköpfe waren letzte
Nacht im Wintershop gestrandet, Nullen mit unterschiedlichen Ambitionen.
Zwischen ihnen eine flachsblonde Elfe, die noch nicht gezeugt worden war als die
sie flankierenden Zeroheads bereits Stammkunden im Winterstop waren.
“Ich steh drauf”, hatte Deep Throat mit seiner kehligen Stimme offenbart
“mit Frauen zu schlafen die noch ungeboren waren als ich zum ersten Mal
Vater wurde. Das inspiriert mich.”
Das hatte Dr. Strothmann irritiert, der sich seit langem weitgehend damit
begnügte Zeichen des Begehrens präziser zu deuten, damit er etwas für sein
Ego abschöpfen konnte ohne aktiv werden zu müssen.
Als Deep Throat zum Potte kam fragte Strothmann das Mädchen, seit wann
sie mit Deep Throat zusammen sei, und sie antwortete man sei nicht zusammen
weil er nicht wisse was er wolle.
Sie findet ihn klasse mit all seinen Widersprüchen, seinen schillernden Facetten,
seiner Lebenslust, seiner Vielseitigkeit, seinem sich Treibenlassen, seiner
Exzessivität, fand also genau das Gegenteil der Gradlinigkeit attraktiv, die sie
in Bezug auf ihre eigene Person von ihm einforderte.
“Du meinst also, Du findest in jeder anderen Hinsicht seine Unentschlossenheit
anziehend, erwartest aber dass er in Bezug auf Dich genau weiß was er will?”
“Ja. Exakt. Da soll er sich festlegen.”
Abwinken.
Hinter ihm wußte der Sargtischler genau was er wollte, aufgrund alkoholbedingter
Leichtfertigkeit hatte er der Drohung Sex nachgegeben, zwei große Münder
verschlangen sich gegenseitig, so dass beide Gesichter zusammen etwa so
aussahen wie eine überdimensionale Amöbe bei der Zellteilung.
Deep Throat erlitt einen Kreislaufkollaps. HIV-Testsieger mit Schlampenfieber.
Dem Mädchen riet Dr. Strothmann: nu bring den Opa mal nach Hause, womit er
sich Sympathien verdarb, mit denen er nicht umgehen konnte.
Die Amöbe trug eine Brille. Doc Strotmann sah zum Fenster hinaus auf Deep
Throat, den seine Nichtfreundin aufs Rennrad bugsierte. `Fenster zum Doof`,
brüllte er gegen das Gebrüll im Shop, sah den beiden nach wie sie von
dannen schlingerten, ein welker Sportler, dessen Rennrad sich im Zeitraffer
in einen Rollator verwandelte und eine geliebte Gehhilfe, geliebte Gehilfin und
Geliebte auf die er sich stützte.
Wehmütig. Eifersüchtig. Nicht in Bezug auf eine Person, sondern auf die Bereitschaft
sich einzulassen.
Er verabschiedete sich grußlos. Schlich alleine nach Hause, auf den Brillengläsern
Knallerbsen aus Regen und Licht, deklamierte: Yes, Ficken.
Jetzt war er hier, in seiner leeren Stammkneipe, und wußte nicht, wann
Verweigerung in Unfähigkeit, Individualismus in Zwangsneurose und Durst
in Sucht umgeschlagen waren. Wann er den Umschlagplatz passierte,
den man nicht erkennt, wenn man meint er liegt noch vor einem.
Lloyd kam zurück, einen Laserpointer hinters Ohr gesteckt.
“So wie es aussieht machst Du heute hundert Prozent des Umsatzes. Mistwetter,
Montag, Stammgäste im Urlaub.”
Alleinstellungsmerkmal.