Big Bounce
Du bettelst um Lokalverbot? Kriegst Du nicht.
Lloyd hat mit dem Vermieter geredet und betreibt das Absud noch bis
Ende nächsten Jahres. Das ist Dein Todesurteil, aber bis es so weit ist
sorgst Du für Umsatz, deswegen wirft niemand Dich raus, auch wenn
Du mehr einbringen könntest - würdest Du nicht in der Hoffnung der
Hirnrichtung zu entgehen, indem Du die Henkersmahlzeit vermeidest,
niemals Essen bestellen…
…an einem Nebentisch, unsichtbar hinter dem schiefen Stamm
einer mächtigen Platane, nimmt (tschilp!) ein Pärchen Platz. Tabula schaltet
um auf den Modus `Beflissen`, nimmt noch rasch einen auf Lunge,
klemmt die grade erst Angezündete in die Kerbe des Aschenbechers,
streicht sich den Rock glatt, vollzieht im Hochschnellen eine halbe
Drehung, wendet Dir den Rücken zu und stakst von dannen. Du starrst
auf die karminrote Aura, die den Filter umkreist, möchtest dringend an
ihrer Kippe ziehen um den Lippenstift zu kosten.
Der Biergarten füllt sich mit Gästen, Du bleibst alleine am Tisch im
Zentrum. Das Weizenbier schmeckt nach modriger Pappe. Liegt an dem
Bierfilz, der das wertvolle Nass gegen Wespen abschirmt. Du schiebst
Panik wegen SchwarzGelb, die letzte hat Dich hier im Absud in
den Hals gestochen, woraufhin Du aufblühtest wie ein Streusselkuchen
und in die Notaufnahme kutschiert werden musstest. Dort diagnostizierte
man Urtikaria, was den Abend enorm aufwertete, nicht wegen der
Schwellungen, sondern der exotischen Schönheit der Nomenklatur. Man riet
Dir dringend, die Nacht im Krankenhaus zu verbringen, es könne zu einem
anaphylaktischen Schock kommen, sobald die Wirkung des Cortisons nachlässt.
Die Geschwindigkeit, mit der die Schwellungen abklangen, war atemberaubend.
Reisen in die Vergangenheit sind doch möglich, und das im Zeitraffer, dank
Hormon aus der Nebennierenrinde. Ich werde immer nur gestochen, wenn ich
mit Dir zusammen bin, stecktest Du vowurfsvoll Deiner Begleitung, die ohnehin
schon das personifizierte, schlechte Gewissen war. Behutsam beschwor sie
Dich, auf den Arzt zu hören, aber Du konntest unmöglich die Nacht im
Krankenhaus verbringen. Schließlich hatte das Absud noch stundenlang
geöffnet. Deine Begleitung war gut zu Dir, ihre Kränkung vorsätzlich, entsprechend
der Absicht die Trennung zu provozieren ohne derjenige zu sein der sich trennt.
Du wolltest ja kein Arschloch sein. Darum warst Du ein größeres Arschloch.
Du bist umzingelt von mehreren, großen Abendmahlen. Doppelkopfrunden
und Piratenkonferenzen an zu Tafeln zusammengerückten Tischen. Das
betörende Aroma von flüssigem Eigelb, Bratfett und heißem Speck.
Synästhetisch transformiert zu einem glanzvollen Geruch. Du weißt vor
Sozial- und Futterneid nicht ein, nicht aus. Wildfremde Stammtisch-
gäste halten sich ihre iphones entgegen wie Mandalas, solange bis die
selbe Melodie erklingt und die Wahrheit der Werbung erwiesen ist.
Jubel bricht aus. Du kannst es nicht fassen, wie fremd Dir das ist.
Ausbrechen würdest Du auch gerne, Dir fehlt nur die Phantasie.
Du bist ein geübter Distänzer, bist darin so gut trainiert, dass Du nichts
anderes mehr kannst. Du hast so hart an der Vervollkommnung gearbeitet,
dass Du alles andere verlernt hast. Du hast keine Vorstellung davon, wie
Du die engen Grenzen Deiner Disziplin sprengen kannst, die Dich einschnüren.
Aus einer Fähigkeit wurde eine Neigung, aus der Neigung eine Manie, sowie
aus Neugier Genuss, und aus Genuss eine Sucht wird. Sie abzulegen käme
der Umkehrung des Zeitpfeils gleich.
Ausgelassenheit zieht sich um Dich herum zusammen. Passend dazu duftet es
immer noch nach ausgelassenem Fett, wenn auch nicht mehr dominant. Der
Duft mischt sich mit anderen Lock- und Botenstoffen, erzeugt zusammen mit
Gelächter, Stimmen, Gläserklingen und Musik eine magisch-magnetische
Wolke, die dem Publikum jede schlechte Laune, jeden Pessimismus und -
vorübergehend wie ein Zwischenhoch - sogar Depression und Suizidgedanken
entzieht. Die Magersüchtigen schlemmen. Die Bipolaren kichern unbeschwert.
Die Alexithymen verschenken Sonnenblumen, weinen wie Olympiasieger auf
dem Podest bei der Hymne und skandieren: Ich kann sehen. Das Publikum ballt
sich um Dich wie eine Faust.
Je näher es Dir kommt, desto weniger gehörst Du dazu.
Girlanden aus bunt bemalten Glühbirnen verbreiten das Licht einer Kirmes
bei Nacht. Jubel, Trubel, Rubel rollt. Du hockst in einer Höhle mittendrin,
geduckt über dem iphone, dessen Notizdisplay ein fahles, liniertes Licht
verbreitet, das Dich an die Schulzeit erinnert. Die Wände rücken näher
(Notiz: Poe-sie), das Wasser steigt, der Akku fiept. Nur noch 10 Prozent.
Umgeben von einer erdrückenden Aufbruchstimmung verfasst Du tapsig
Deine letzten Willenlosigkeiten. Um Dich herum breitet sich inflationär die
hell erleuchtete Zukunft aus, wird das Licht geboren und bringt mit missio-
narischem Eifer Vorfreude in die Welt. Der Druck wird stärker, die Stimmen
werden lauter, in der zunehmenden Hitze frierst Du erbärmlich. Vergeblich
versuchst Du, Dich an Anekdoten von Nebentischen festzuklammern, Dich
aus Deiner misslichen Lage zu befreien: “Ich glaube meine Hormone
spielen verrückt. Blieb heute bei ner Anzeige im web hängen weil ich
las `Betaster gesucht`. Hin- und herüberlegt was das sein kann bis
ich noch mal hinguckte.”
“Und? Was suchten die wirklich? Bestatter?”
“Ne. Betatester.”
Du fühlst Dich bestohlen. Diese Geschichte hast Du vor Jahren erzählt,
da war der noch nicht geboren, der sie jetzt als seine ausgiebt. Es ist
vorbei, es hat keine Perspektive, also mach den Mund zu und bleib
stumm. Du denkst an die gefangenen Wespen. Du denkst an jemanden
der Dich rauszieht, in die Dimension der Nähe hinein, die Du selbst
nur zufällig betreten kannst, so wie eine Wespe in ihrem Flächenland
nur zufällig den Spalt findet, den ein auf Kipp stehendes Fenster in die
Freiheit eröffnet.
Das bunte Treiben um Dich herum geht Dir unter die Haut, während Du
mit Teelöffelchen Tunnel in die Vergangenheit gräbst. Jedes Löffelchen
Reminiszenz wiegt einige Sonnenmassen.
Strothmann geriet sein Leben lang von einer Verlogenheit in die nächste,
mit Verve und voller Absicht.
Jetzt steckt er in einer Klemme aus der er sich nicht mehr heraus
reden kann. Er hatte gedacht - der Wunsch Vater des kranken Gedanken -
dass er einfach auf Nimmerwiedersehen rausspaziert und nur noch aus
Nostalgie gelegentlich an der geschlossenen Pforte vorbei schlendert,
auf den verwaisten Biergarten blickt wie auf einen geschlossenen
Vergnügungspark und “…ach ja…” seufzt. Ein paar Plattitüden in Form
von isoliert herumliegenden Zigarettenkippen würden an bele(i)btere
Zeiten erinnern. Ein Gastroarchäologe würde nur flache Relikte finden,
mit Biergoglyphen beschriebene Bierdeckel, genügend Münzen um einige
Stangen Zigaretten zu ziehen, und vielleicht exotische Materie wie ein
mit Kriegsbemalung verzierter Zahnstocher zum Wiederverwenden. Es
würde Strothmann warm ums Herz werden wenn er zurück denkt an den Igel,
der sich einst dort im Laub verkrochen hatte und mit Gin und Milch
totgepäppelt wurde. Weit gefailt.
Statt dessen nimmt den welken Stammgast eine blühende Zukunft in die Zange,
umklammert ihn mit mit gehöriger, ausschließlicher Gewalt, die ihn ausschließt
und ihn als nicht Dazugehörigen an Ort und Stelle festnagelt.
Das Absud ist tot? Lang lebe das Absud.
Zwar ist Schluss, aber nur mit lustig.
Das Absud schließt.
Aber sich nur um ihn.
Das Absud lebt, der Akku ist tot.
“Kommt ein Profikiller abends zu seiner Frau nach Hause. Sie fragt ihn:
`Und? Wen Interessantes getroffen heute auf der Arbeit?`
Er: `Ja`.”
Nicht dazu gehörig. Während die zukunftsträchtigen Gäste um ihn herum sich auf
Expansionskurs befinden, frohgemute Pioniere des Rauschs und des Gedächtnisver-
lustes, erlebt Strothmann die Zukunft als Kontraktion, in deren Zentrum er sich
befindet. Die Kontraktion reduziert den Durchmesser seines Universums auf den
Radius der Platte des Tisches an dem er sitzt. Strothmann umklammert zu einem Ei
ohne Überraschung zusammengerollt die Metallbeine des wackligen Klappstuhls
auf dem er sitzt, und für den er Liebe empfindet von einer Tiefe, die er sich nie hätte
vorstellen können. Kommende Erfahrungen und Erlebnisse, die nicht mit ihm geteilt werden,
erhöhen exponential den Druck. Wunder-Bar um Wunder-Bar. Er fühlt sich wie Beverly
Crusher in der Next-Generation-Episode `Das Experiment´, nur dass er die Haare nicht
so schön und keine Ausflucht parat hat.
Strothmann gräbt weiter, solange er noch einen Löffel hat. Er buddelt Sysiphos Stein aus,
der sich als Atombombe entpuppt, detoniert, und in einem erhellenden Moment der
Erkenntnis das Glück aus seiner Vergangenheit vertreibt. Er glaubt nicht an einen
Durchbruch, er setzt seine Hoffnung auf einen Fluchtpunkt, klein genug, damit
Quanteneffekte seine totale Annihilation verhindern. Durch seinen kosmologischen
Strohhalm atmet er das letzte Quäntchen Alkohol ein, saugt sich selbst durch
das Münchhausensche Wurmloch in den Bodensatz des Glases hinein. Während
die Fülle der Gäste über seinem Tisch zusammenschwappt, denkt Strothmann
an eine Geschichte aus einem Buch von Oliver Sacks, eine Frau mit einer
speziellen Form der Prosopagnosie, die in wenigen Sekunden hunderte Gesichter
karikierte, mit allen Anzeichen der Übelkeit an einer Strassenecke stand, vorgebeugt,
Halt an einer Laterne suchend, und stundenlang Gesichter auskotzte von all den
Menschen, die sie im Laufe der Zeit gesehen hatte, er erinnert sich an die von
innen versteinernde Mathematikerin, die an Fybrodysplasia Ossificans Progressiva litt,
einer unheilbaren Krankheit, die zu spontanen Knochenbildungen führt, an ihre Manie,
alle ständig mit ihrem Perfektionismus zu nerven, ein Verhaltenszug der dazu dienen
sollte, alle spüren zu lassen, wie es ist, wenn nichts stimmt, überall nur Hindernisse
sind. Aber er erinnert sich nicht daran, wann, unter welchen Umständen und mit
wem er warum zum ersten mal hier gewesen ist. Der Beginn der Geschichte ist unklar.
Den Kollaps begleitet Musik. Theres no way out of here von David Gilmour in der Version
der Foo Fighters. Die Zukunft schließt Strothmann aus, indem sie ihn einschließt.
Durch den Fluchtpunkt im Zentrum des Drucks aus der Zukunft stülpt sich ein
neues gastronomisches Kontinuum aus, das Strothmann nach dem Prinzip des
kosmologischen Vergessens weitgehend aus seinem kollektiven Gedächtnis streicht,
so wie das Universum im Ursprung die Erinnerung an seine Herkunft in
Strahlungen verschleiert. Spuren, die auf Deutung warten wie Botschaften an Bord eines
in die Leere katapultierten Satelliten.
Ähnliche Geschichten werden entstehen, ähnliche Dramen sich ereignen, ähnliche
Anekdoten erzählt. Ähnliche Typen werden Nacht für Nacht am Tresen hängen,
auf jede Attraktivität mit Repulsion reagieren, und unfähig sein einem Sog nach-
zugeben. Diese Fähigkeit werden sie händeringend dann vermissen, wenn der
Druck unwiderstehlich wird, sie kurz vor der Implosion stehen und die bärtige Stimme
vernehmen, die da spricht: “…und ich gehe jetzt und schließe sie.”
Um Mitternacht bringen die fremden Stammgäste und seine bezaubernde Gattin Lloyd
ein Ständchen dar. Wunderkerzen brennen, Sektgläser werden verteilt, eine Stimmung
wie Silvester. Lloyd verkündet jungen Bewunderern, dass auch dieses und nächstes
Jahr das Absud an Heiligabend geöffnet ist.
“Denn ich bin der, der Welten überdauert und Welten schafft. Ich bin Brahma und Vishna,
Shiva und Ganesha.”
übertreibt in fröhlicher Selbstverherrlichung der Wirt der Butze, die Wikinger heben Hörner
auf ihn, die Klingonen widmen ihm Heldengesänge.
“An mir wirst Du Dir die Zähne ausbeißen”, neckt ihn seine Göttin, “ist noch jedem so gegangen.”
Lloyd himmelt sie an, erwidert schalkhaft: “Ich hab mich noch nie um Konventionen geschert.”
“Ich find, so langsam können die mal alle gehen, damit ich anfangen kann mich zu betrinken.”
“Apropos gehen. Wo ist denn Strothmann geblieben?”
Tabula zuckt mit den Achseln.
“Weiß nicht. Der ist mal wieder einfach verschwunden. Natürlich ohne zu bezahlen.”
“Unwichtig”, winkt Lloyd ab, “Der kommt sowieso wieder. Wo soll er schon hin?”
Ein Radfahrer hält am Kanal, steigt ab, zieht die Schuhe aus und kühlt seine Füße im
Wasser. Er sieht den Wahnsinnigen zu, die von den Bögen der Kanalbrücke über den
Bürgersteig hinweg in die Tiefe springen. Am wolkenlosen Firmament beschreibt ein
Vogelzug eine langgezogene Kurve, Graph einer Funktion mit Zacken aus Flügel-
schlägen, ein geschwungener Drachenschwanz aus Stacheldraht, der südwärts strebt.
Der Radfahrer rappelt sich auf. Er muss weiter.
Er muss schnell sein, weil seine Erinnerungen hinter ihm her sind.
Er muss hier weg, bevor die Erinnerung an die Fröhlichkeit der
Kinder im Garten des ehemaligen Hauses seiner Eltern, an die Helligkeit
und Freundlichkeit der Einrichtung, an die Gastfreundschaft der neuen
Besitzer ihn um(b)ringt.
Der nächste Biergarten ist Epochen entfernt und er kommt um vor Durst.
Auf der spiegelglatten Oberfläche des Kanals breitet sich gleißend hell
eine jahrmilliardenalte Geschichte aus, die jeden noch so ausgeprägten
Fluchtkomplex einholt.