Big Ben Theory
“Dass Bochum sich überschätzt hört man am Klang der Rathausuhr.
Die Melodie von Big Ben. Wie großkotzig.”
“Ey Alter, sauf nicht so viel Kamillentee, ab 2,5 Kamille wirst Du
richtig sauertöpfisch.”
“Ich hab halt Kopfpinne wie n Mungo.”
“Heiße Zitrone, Bulrichsalz rein, Kaffee rein, Korn rein, kippen.
Hilft besser als n Vorschlaghammer.”
“Man sollte immer mit dem wieder anfangen womit man aufgehört hat.”
“Mit Sex?”
Doc Strothmann hat nicht nur die Kneipe gewechselt, sondern auch
sein Equipment, kritzelt nicht mehr auf Bierdeckel, sondern pickt
seine Bieroglyphen in ein ipad. In der Rostrutsche ist das Mitschreiben
von Dialogen eine sportliche Herausforderung, weil mehr davon statt
finden, und diese kürzer und abgehackter sind, stakkatohafter als
die Dialoge im Absud, bei denen es sich zumeist um Monologe handelt
die einander unterbrechen.
“He Ober, da ist ein Hörgerät in meiner Suppe.”
“Drehen Sie mal lauter, sonst versteh ich Sie nicht.”
Das Alter. Taube Ohren und Pointen, die nicht hinhauen.
Über dem Eingang zum Herrenklo hängt ein Paddel, auf dessen
Schaufeln unbekannte Ruderer mit Tippex Autogramme geschrieben
hatten - Symbole des Sich über Wasser Haltens und der Mühe
beim Wasserlassen.
Manche Leute kommen mit Rollator in die Kneipe - Krücken sind vom
Aussterben bedroht - Strothmann braucht Gedächtnisstützen.
Der Körper funktioniert noch so leidlich, aber das Erinnerungsvermögen
läßt nach. Er vergisst Namen von Filmen, Schauspielern und Sportlern -
früher undenkbar. Dafür fallen ihm Ereignisse aus der Kindheit wieder ein -
das Langzeitgedächtnis tritt in den Vordergrund. Während er sich früher alles
merken konnte, entgleiten ihm mittlerweile sogar die eigenen Geschichten:
die Episode wo er ins Absud kommt, und mitten in ein Klassentreffen von Leuten
gerät, bei denen er sich fragt: Du meine Güte, was sind das denn für alte Knacker,
und Lloyd verpasst ihm den Denkzettel:
“Tja. Schmutzig verdientes Geld. Die haben Dreißigjähriges Klassentreffen.
Das haben Du und ich beide schon hinter uns”, steht die schon in einer Bieroglyphe
oder nicht?
Das ipad ist ein Zugeständnis, ein Schrittmacher für sein Hirn.
Die Tasten sind schon annährend altersgerecht. Er verschreibt sich nicht
mehr so häufig wie auf dem iphone, der ersten Gehhilfe für seine
Grauen-Zellen.
Die Rostrutsche wird von jungen Leuten für Alte betreiben. Likörchens
Eltern sind Stammgäste, saufen sich hier ihr Unbehagen von der Seele:
sie wissen, dass das hier ihre letzte Stammkneipe ist, wollen lieber hier
tot umkippen als zu Hause oder in nem Pflegeheim. Wenn der VfL spielt
oder besser: stümpert muss man fürchten dass die Stammkundschaft
auf einen Schlag mit multiplem Organversagen hinweggerafft wird.
Strothmann wechselt mit der Stammkneipe die Generation: hat er
zuvor mit Krankheitsbildern kokettiert sind die Krankheiten jetzt klare
Zukunftsperspektiven. Bauchspeicheldrüsenentzündung. Hörsturz.
Herzinsuffizienz. Boreout im Seniorenstift.
Er ist jetzt selbst so alt wie diese Kneipengänger, die er als Kind an der
Hand seines Vaters verwundert angestarrt hatte, weil er sich nicht vorstellen
konnte, dass so alte Leute noch leben.
Pullunder, der Pächter des Zecher, mit dem Strothmann sich durchs Spiritousen-
sortiment kämpft, hatte vor Stunden noch beteuert er trinke nur ein Bier,
denn er müsse dringend nach Hause weil seine Frau mit nem Coq au vin
auf ihn wartet.
Jetzt hockt er in sich verschnörkelt auf dem Hocker neben Doc Strothmann
und blinzelt hinter den Gläsern seiner dicken Hornbrille alkoholbedingte
Doppler-Effekte weg, solang bis er Doc Strothmann nur einmal sieht.
Pullunders Nuscheln gibt seiner Rede einen touch von französischem Chansonier,
der ohne weiteres homophob Veranlagte in die Flucht treiben kann.
Würde er sich selbst zuhören, würde er sein Versprechen wahrmachen und
sagen: ich bin dann mal weg, aber über das Stadium wo Hören noch Zuhören
bedeutet ist er schon drüber.
“Sach mal Strothmann, wieso has Du eigentlich keine Freundin?”
Strothmann sieht sich kurz um, als wolle er Pullunder ein Geheimnis
anvertrauen. Links von ihm gräbt eine Mitsechzigerin
den Fischhändler an, der immer nach Weihnachtsmarktschluss hier her
wankt und so lange Altbier an Altbier reiht, bis er nicht mehr zwanghaft
Rollmöpse zählt und der eingebildete fischige Eigengeruch endlich
ausgeblendet ist. Der denkt: Scheiß gnadenloses Kneipenlicht. `nauso
wie inner Ausnüchterungszelle. Man sieht alles was man nich sehn will…
Und immer noch: rollige Möpse.
Strothmann wendet sich wieder Pullunder zu, die beiden stecken die
Köpfe zu einem Fabelwesen zusammen, über dessem kahlen Doppelkopf
Zigaretten schweben, winzige in Brand gesteckte Luftschiffe:
“Machsu Witze? Weil ich ne Stammkneipe hab. Wann soll ich n da Zeit
für ne Freundin haben?”
Ist was dran. Er verabredet sich selten, wenn dann am liebsten mit Frauen
derselben Nationalität (Trinker, op.cit. `Casablanca`).
“Ich als Wirt kann das natürlich nur begrüßen dass Du Deine Mäuse nich
so wie andere an Kinder und Familie verschwendes…”
Strothmann blickt mit einem Bedauern, das mehr ihm selbst als Pullunder gilt
dem Pächter in die ersterbenden Rehaugen. In einer Beziehung spielt der Partner
immer die letzte Geige hinter dem Suff und der Kneipe, Sex gerät zu einer
Mischung aus Heuchelei und Furcht vor plötzlichem Herztod. Dem Partner
bleibt nur wunschloses Unglück, Coabhängigkeit oder Flucht. Er geht zu Grunde
an mangelnder Zuneigung, während das Glas nie zur Neige geht.
Es ist besser diesen Weg allein zu gehen bis einem die letzte Runde schlägt.