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Bilanzbetrug

“Das muß man sich mal vorstellen. Auf einmal melden sich Leute bei einem, die man seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hat, nach einer Zeitspanne, die länger ist, als man beim letzten Kontakt alt war, und erkundigen sich wie es einem geht, was man so macht…Leute, die man damals nicht leiden konnte, Ex-Freundinnen, mit denen man völlig verkracht auseinanderging. Was soll das?” Die Midlife-Greise ziehen Bilanz, und wo sie einen bei Klassentreffen nicht erwischen, da versuchen sie es über Foren im Internet. Kennst Du die noch…was macht der eigentlich?…versenden ungefragt Originalbilder, das bin ich, seriös mit Krawatte, hätt ich damals nicht gedacht, dass ich mal so werde…Die Vierziger klammern sich als Schiffbrüchige an Trümmer ihres Lebensentwurfes und sehen sich um. In der Einsamkeit der Phase, da einem klar wird, daß die Zeit, die vor einem liegt kürzer ist, als die, die hinter einem liegt, da einem klar wird, daß der Zenit überschritten ist, klammert man sich an jeden Überlebenden. Die man früher ignoriert oder düpiert hatte, sind als Leidenskumpane hochwillkommen. Als verständnisvolle Clacquere des eigenen Haderns und Selbstmitleids. “Ich kannte auch so einen”, antwortet der Banker dem Vertriebler, “als ich den das letzte mal gesehen hatte, da kotzte er Persico in den Schnee unterhalb eines Balkons in einer Jugendherberge in La Villa. Und jetzt schreibt er mir e-mails: weißt Du noch, unsere tollen Oberstufenfahrten?” Die Freundin des Vertrieblers sieht aus wie Samuel Beckett und ihn konstant mit leidendem Hundeblick an. Gehn wir jetzt? Der Vertriebler grinst sie kurz an und bestellt noch ein Bier. Gestern hat er im web die Adresse einer alten Flamme gefunden. Er kann es kaum erwarten, morgen seine mails abzurufen.