Bierderline
Es konnte keine andere physikalische Erklärung geben: die Kneipe beschleunigte.
Den Passanten, die draußen kreuzten, hätte sich, wenn sie einen flüchtigen Blick
durch die offene Kneipentür in das Raumschiff Absud warfen, ein seltsames Bild
geboten.
Der Tresen wurde der Länge nach gestaucht, die Gäste am Tresen
aneinander gequatscht, etwa so als drücke eine Titanenkraft die Mittelreihe eines
Kicker-Ensembles mit konsequenter Gewalt zusammen.
Feinmann lugte kurz rein, konstatierte `Längenkontraktion`, während er die Klebefläche
seiner fast vollendeten Selbstgedrehten befeuchtete, und machte sich schleunigst
vom Totenacker.
Die Gäste auf den Barhockern, Phagen der Desinformation, fanden es kuschelig, auch
als sich immer mehr Tribbles dazwischen drängelten.
Ein Beobachter inmitten dieses Gedrängels hätte in jedem Fall aktiv auf das Ensemble
eingewirkt, und sei es nur als Tantenfluktuationen erzeugendes Hindernis.
Noch eklatanter die Fluktuation, die ein bewegter Beobachter erzeugt, der sich
einmischt, indem er kommuniziert, gestikuliert und dabei Sackos mit der Glut seiner
Zigaretten durchlöchert, wenn er nicht gleich aus Unachtsamkeit seine Kippe auf
eine herumliegende französischen Bulldogge fallen läßt, die als heiserer Kugelblitz
zwischen den Füßen der Barhocker Slalom pest, was einen besoffenen Mathe-Studi namens
Ilon Epps zur Berechnung des animalischen Pfadintegrals veranlasst.
“Hör mir doch mal zu!”, fordert vehement der Chemie-Lehrer mit dem Wayne Rooney-
Schädel und dem Hang zur linearen Extrapolierung dynamischer Entwicklungen, dabei
ist sein Zuhörer bislang lediglich zum ersten Vokal einer Bemerkung, nicht aber zu
Wort gekommen: “Die Welt geht nicht unter, sie ist längst untergegangen. 75% des
Fischbestandes sind ausgerottet und treffen auf eine wachsende Bevölkerung, die
sich von Fisch ernährt. Das Schmelzen der Polkappen ist nicht mehr aufzuhalten
und eine wachsende Population hat Durst. Was willst Du mir da von sufficiency erzählen?”
Becks Benny hat nur Zeit für ein ´A…`, versucht ganze Argumentationsketten in die
Atempause von Wayne Rooney zu packen, was dazu führt, dass er lispelt weil für
die Betonung der Vokale nicht Zeit genug bleibt:
“Das greift mir zu kurz. Du weißt nicht was die Zukunft bringt und in wie weit Menschen
dazu in der Lage sind bremsend und steuernd auf diese Entwicklung zu reagieren.
Du tust so, als würdest Du sämtliche dynamischen Faktoren in ihrer Wirkung berechnen können.
Das ist genau so größenwahnsinnig wie fatalistisch.”
Der angeregte Dialog der Austauschteilchen droht einen kritischen Anregungswert zu
überschreiten. Anregung avanciert zu Aggression:
“Du redest doch Schwachsinn. Lies mal die Fakten. Studier mal die Protokolle der
Dohar-Konferenz. Oder den Armutsbericht. Hasst Du Dich mal mit Spieltheorie
befasst? Oder Ernährungswissenschaft? Du kommst mir mit Sozialwissenschaft,
die ist dafür irrelevant. Wir haben es nicht mit sensiblem Chaos zu tun, sondern mit
robusten linearen Entwicklungen, die kein Schmetterlingseffekt oder Geniestreich
beeinflusst.”
“Ja klar”, erwiederte abwinkend Becks Benny, der Dialoge ohnehin nur im Zustand der
Schizophrenie als Bereicherung empfand, “und es ist unvermeidlich, dass der Meeresspiegel
steigt, der Zuckerhut schmilzt und schon hat die Weltbevölkerung wieder genug
Süßwasser.”
Um die zwei Streit- und die Zapfhähne herum wogt das Publikum in ungewisser Verteilung,
das motorische und rhetorische Auf und Ab und Hin und Her lässt keine belastbare
Prognose auf den weiteren Verlauf zu, alles ist möglich, nur eins gewiss: der nächste
Morgen beginnt für die überwiegende Mehrheit mit einem Doppelspaltexperiment.
Wohin geht der Schmerz? Schaukelt er sich zur Migräne auf oder verschwindet er?
Wache ich überhaupt auf und wenn nicht: weil ich träume, weil ich tot bin oder weil
ich durchmache?
“Ich brauche meine Eltern nicht aufm Friedhof zu besuchen, weil die zu mir kommen.
Jede Nacht.”
Also doch lieber durchmachen.
“Lebensmittelpunkt interessiert mich nicht. Ich brauch Lebensmittel.”
“Der Satz des Pythagoras war neun Meter lang und Weltrekord im Weitsprung.”
“Bin nur müde, nich lebensmüde”.
“Das Verhältnis der Produkte der Krümmung der Raumzeit im Inneren eines
Schwarzen Lochs zum Produkt der Krümmung der Augen rund um die Pupillen ist
durch eine Fibonacci-Reihe definiert, deren Grenzwert f(P+1) ist, wobei P für
die Summe der Pupillen steht…”
Der Alkoholpegel erreicht jenen Wert an dem sämtliche Impulse und Höllenfunktionen
absolut destruktiv interferieren. Der Tresen bildet eine universale Trennlinie an der
alles in alles kippen kann, volle und/in leere Gläser, Euphorie in Depression, verbale
Streicheleinheiten in massive Faustschläge, Downloads in Uppercuts, Teller mit
Tagliatelle, die über den Köpfen schweben zu Flying Saucers aus Independance-Day.
Hier ist das Zentrum der Multiversen, hier schlägt Melancholia ein, hier hat niemand
Angst vor dem Tod, weil einen niemand überlebt und niemand um niemanden trauern
muss, hier ist die Potenz jeder Zahl mit jedem der Brüche dieser Zahl identisch, packt
die Potenz die Zahl (und den Zahn der Zeit) bei der Wurzel, sind Mikro- und Makrokosmos
zwei spiegelverkehrte Annährungen an den Standpunkt des allmächtigen Beobachters,
sind Quantenschaum und Bierschaum indifferent.
Totale Entspannung. Lloyd ist der Schwellenwirt.
Spinnt 1, spinnt auch 2. Weil man säuft als gäbe es kein Morgen gibt es kein Morgen.
Zeit steht nicht still, sie ist nicht vorhanden - das böse Erwachen, dass die Zeit in Gang
setzt schon.
Trauer ist harte physische Arbeit, eine von hintergründigen Programmen provozierte
physische Anstrengung, deren Zweck und Wirkung ebenso wenig bekannt ist,
wie dem gewöhnlichen User Zweck und Wirkung all der Programme bekannt ist,
die den PC beim Hochfahren zum Rödeln und das grüne Licht zum Flackern bringen.
Trauer ist die Singularität inmitten aller Möglichkeiten, man ist mit ihr allein, da kippt
nichts in die eine oder andere Richtung, jedes Tablett bleibt in der Schwebe so
dass niemand bedient wird (so als würde Robin Sun kellnern, die aber mittlerweile
als Bürobotin beim Carlsen-Verlag nicht arbeitet).
Die Verbrannten sind nicht gebannt. Die Verstorbenen sind nicht tot.
Die Begrabenen sind unkündbare Untermieter.
Der unbeteiligte Gast verschwindet auf dem (Ei)-Pott, vermeidet den Blick in den
Spiegel, findet Trost im Anblick eines abgasfarbigen Beschlages auf dem Wasserhahn.
Was soll er damit? Er ist ja nicht traurig. Postiert sich vorm Urinal, wieder diese Mühe
mit dem obersten Hosenknopf, pisst weil es ihm so pisst Fullerene ins Tor, leicht
verärgert, weil das Fußballfeld aus Plastik das Siebmuster aus Löchern im Porzellan
verdeckt, deren Anzahl immer eine Primzahl ist.
“Wo ist denn Doc Strothmann geblieben?”
“Ist irgendwie von der Bildfläche verschwunden.”
“Ist bestimmt bloß ne Stange Wasser in die Ecke stellen.”
Wahrscheinlich. Aber wie wahrscheinlich? Hopfully tunnelt er sich durchs Primzahlensieb
en pissant in die `Rutsche` am anderen Ende des untergärigen Prostiversums.
Ihm wird schwindelig, muss an der veränderten Wahrnehmung durch die Gleitsichtbrille
liegen, oder am Tunneleffekt, oder an beidem. Alles dreht sich um ihn, das schmeichelt
seiner Eitelkeit und haut ihn aus den besudelten Schuhen.
“Sag mal, Du bist doch Naturwissenschaftler, gibt es Fliehkraftfelder, in deren Zentrum
sich ein weißes Loch befindet?”
Aber ja doch. Der Wayne Rooney-Lulatsch hat das Weite gesucht und ein Taxi gefunden,
während Becks Benny zeitverzögert Sarkasmus an einem nicht mehr vorhandenen
Sparrings-Partner probiert. Box Benny, der im Ring steht und jemanden vermöbelt,
der längst an der Matratze horcht.
Letzte Runde im Absud. Dann Stillstand. Einer fährt Karussell in der sanitären
Keramik. Oder nicht.
Schrödingers Kater ist jedenfalls ein schwerer, so oder so.